Goldbrokat
Taschentuch zwischen den Fingern.
»Man hat dich gedrängt«, vermutete ich und wurde bestätigt.
»Ich werde von jetzt an vorsichtig sein, Ariane. Ich will mit Männern nichts mehr zu tun haben.«
»Ah pah. Bis du einen findest, dessen Küsse dir schmecken.«
Hannah schüttelte sich.
»Ich will nicht mehr geküsst werden.«
»Liebelein, wenn’s der Richtige ist, wirst du wollen. Das und noch viel mehr. Aber jetzt gräm dich nicht darüber. Über den Skandal wächst Gras, du hast hier eine Aufgabe, und alles andere wird die Zukunft zeigen.«
Seit vier Wochen pflegten wir das neue Arrangement nun, und Tante Caros Gefieder hatte sich erwartungsgemäß geglättet. Ich hielt mich vollkommen aus dem Kreis ihrer Bekannten heraus, schon deshalb, weil ich eine ganze Reihe Aufträge zu erledigen hatte und meine Zeit sorgsam einteilen musste. Insbesondere die Zeit zwischen vier und fünf Uhr nachmittags war meinen Kindern gewidmet. Darum stand ich jetzt auch von der Nähmaschine auf und ging in die Küche, um Tee zu kochen und das Weihnachtsgebäck, das ich heute Morgen bei dem Konditor gekauft hatte, in ein Körbchen zu füllen.
Die Küche hatte sich zu einem heimeligen Aufenthaltsort entwickelt. Der Maler hatte die Wände hellblau gestrichen, auf die Borde in dem hohen, weißlackierten Geschirrschrank hatte ich Leinendecken mit Häkelspitzen gelegt, auf denen sich dickes, blauweißes Steingutgeschirr stapelte, ein glänzender Kupferkessel stand auf dem emaillierten Herd, und drei Kasserollen hingen an Haken darüber. Die Tür, die zum Hinterhof hinauf führte, hatte ich dunkelblau lackiert, blauweiß karierte Gardinen rahmten das Fenster, durch das man zwar nur die Füße der Menschen sehen konnte, die draußen vorübergingen, aber zwei helle Petroleumleuchten spendeten genug Licht an dunklen Tagen und abends. Für den Fußboden hatte ich einen billigen, aber bunten Flickenteppich gekauft, ein etwas zerschrammter Esstisch und sechs Stühle mit ebenfalls karierten Polstern vervollständigten die Einrichtung. Das Bügelbrett lehnte ich an die Wand, doch das Plätteisen stand wie immer in der Nähe der Herdplatte. Madame Mira hatte schon recht gehabt, für diese Handgriffe in der Schneiderei war eine Küche ganz nützlich.
Die Türglocke erklang, und die Stimmen meiner Kinder kamen näher.
»Mama, ich habe ein Sehr gut im Rechnen und Philipp hat einen Tadel ins Klassenbuch gekriegt!«
»Petze!«
»Du hast gesagt, das war’s wert!«
»Ruhe an Deck. Hängt das Schild an der Tür?«
»’türlich!«
Wenn die Kinder bei mir waren, war das Atelier selbstverständlich geschlossen.
»Wo ist Hannah?«
»Sie wollte in der hohen Straße bummeln gehen.Weihnachtsgeschenke kaufen!«
»Ah, na gut.« Hannah besaß eine Menge Feingefühl. Wenn es nicht gerade junge Hunde regnete, vergnügte sie sich in den Straßen der Stadt, und zugegebenermaßen mochte das bei ihrer ländlichen Herkunft noch immer von großem Reiz sein. Uns gab es die Gelegenheit, ohne Hemmungen über alles zu reden, was uns notwendig erschien, aber unter uns bleiben sollte. Klagen über ihr Kindermädchen hatten meine beiden allerdings nicht vorzubringen. Im Gegenteil, sie waren sogar begeistert von ihr. Aber jetzt galt es erst einmal, Philipp wegen seiner Straftaten zu verhören. Kreide auf dem Stuhl des Lehrers, dessen weiße Kehrseite anschließend zu allgemeiner Heiterkeit beitrug, war ein Vergehen, das korrekt mit einem Tadel geahndet worden war, weshalb ich mich nur zu einem milden Verweis gezwungen sah.
Die gute Note allerdings lobte ich ebenso nur mit geringem Überschwang.
»Ein Sehr gut. Schön, Laura. Nichts anderes habe ich erwartet. Das nächste Mal bitte dasselbe Ergebnis.«
»Ja, Mama.«
»Probleme, Sorgen, Schwierigkeiten?«
»Nein, Mama.«
»Drängende Fragen?«
»Nein, Mama.«
»Besondere Vorkommnisse oder überwältigende Neuigkeiten?«
Das war immer der Tagesordnungspunkt, an dem ich den neuesten Klatsch und Tratsch erfuhr oder die Zusammenfassung der wüsten Geschichten, die Hannah aus der Leihbücherei auszugraben wusste. Sie war noch viel einfallsreicher darin als Madame Mira und hatte eine Fundgrube von Schauer- und Gruselgeschichten aufgetan, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen konnten. Zumindest in den Interpretationen meiner phantasiebegabten Kinder. Was dann auch heute zu der Frage führte, ob ich in meinem langen, abwechslungsreichen Leben nicht auch schon mal wenigstens einen Geist gesehen
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