Goldener Bambus
die Familie Yee den Jangtse überquerte, um sich im Süden niederzulassen, hatte NaiNai bereits drei Söhne geboren. Papa war der Älteste und der Einzige, der in die Schule geschickt wurde. Großvater erwartete, dass sich seine Investition bezahlt machte und Papa Buchhalter würde, um die Familie vor den staatlichen Steuereintreibern zu schützen. Doch der Plan ging nicht auf – Großvater verlor seinen Sohn an die Bildung.
Denn nun war sich Papa zu gut, um irgendeine Arbeit anzunehmen. Mit sechzehn entwickelte er die teuren Angewohnheiten und Phantasien eines reichen Mannes. Er las Bücher über Chinas politische Reformen und kaute Teeblätter gegen den bäuerlichen Knoblauchatem. Seine Vorstellung vom idealen Leben war, »Gedichte unter blühenden Pflaumenbäumen zu schreiben«, weit weg von der »habgierigen materialistischen Welt«. Anstatt nach Hause zurückzukehren, reiste Papa auf Kosten seiner Eltern durchs Land. Doch eines Tages erhielt er von seiner Mutter die Nachricht, dass sein Vater und seine Brüder nicht mehr lange zu leben hätten. Sie waren von der Viruskrankheit befallen, die in seiner Heimatstadt wütete.
Papa eilte nach Hause, doch die Beerdigung war schon vorbei. Bald darauf nahmen Schuldeneintreiber das Haus in Besitz. NaiNai und Papa verarmten und wurden zu Tagelöhnern. NaiNai schwor, wieder zu Wohlstand zu kommen, doch da war sie schon nicht mehr gesund. Als ich dann geboren wurde, litt sie unter einer unheilbaren Darmkrankheit.
Papa bemühte sich, seine »intellektuelle Würde« zu wahren. Er schrieb weiter Gedichte und verfasste zur Beerdigung meiner Mutter ein Poem mit dem Titel »Der süße Duft der Bücher«. Darin berief er sich auf eine neue Spiritualität und behauptete, seine Worte seien ein besseres Geschenk als Schmuck und Diamanten, um seine Frau ins nächste Leben zu begleiten. Obwohl arm wie ein Bettler, war es Papa wichtig, keine Läuse zu haben. Er achtete auf sein Äußeres, stutzte immer seinen Bart und nutzte jede Gelegenheit, seine »ehrenvolle Vergangenheit« zu erwähnen.
Doch für mich hatte diese ehrenvolle Vergangenheit keine Bedeutung. In meinen ersten Lebensjahren dachte ich nur ans Essen. Am Morgen wachte ich hungrig auf, und am Abend schlief ich hungrig ein. Manchmal hatte ich so ein großes Loch im Bauch, dass ich kein Auge zutat. Da ich ständig auf Nahrungssuche war, lebte ich wie im Delirium. Dann und wann bescherten mir ein gutes Erntejahr oder unverhofftes Glück eine Zeitlang etwas zu essen, doch der Hunger kehrte immer wieder zurück.
1897 war ich sieben Jahre alt, und alles war schlimmer denn je. Trotz ihrer immer schlechter werdenden Gesundheit war NaiNai wild entschlossen, unsere Lage zu verbessern. Sie nahm ihren alten Beruf wieder auf und empfing bei uns hinten im Haus Männer. Wenn sie mir eine Handvoll geröstete Sojabohnen gab, wusste ich, dass ich verschwinden sollte, und lief durch Reis- und Baumwollfelder zu den Hügeln. Dort versteckte ich mich in den Bambushainen und weinte bei der Vorstellung, NaiNai genauso verlieren zu können wie meine Mutter.
Zu der Zeit verdingten Papa und ich uns als Landarbeiter. Wir wachten jeden Morgen vor Tagesanbruch auf und gingen zur Arbeit. Papa half bei der Aussaat von Reis, Weizen und Baumwolle und schleppte Dünger. Ich säte Sojabohnen entlang der Felder aus. Dafür bekam ich zwar weniger als die Erwachsenen, doch wenigstens verdiente ich überhaupt etwas. Ich musste mit anderen Kindern konkurrieren, besonders mit den Jungen, war aber immer schneller als sie: Mit einem Essstäbchen bohrte ich Löcher in den Boden, warf eine Bohne hinein, stieß mit dem Fuß Erde drauf und klopfte sie mit dem großen Zeh fest.
Aber mit dem Ende der Aussaatsaison war es auch mit dem Tagelöhnerdasein vorbei. Wir fanden keine neue Arbeit. Papa durchstreifte jeden Tag die Straßen, doch niemand gab ihm etwas zu tun. Aber wenigstens wurde er freundlich behandelt. Ich folgte ihm durch die ganze Stadt. Als er einmal in den umliegenden Hügeln verschwand, wuchsen mir Zweifel, ob er die Arbeitssuche auch ernst nahm.
»Was für eine herrliche Aussicht!«, schwärmte Papa angesichts der Landschaft zu seinen Füßen. »Weide, komm und bestaune die Schönheit der Natur!«
Das tat ich. Der breite Jangtse, dessen zahllose Seitenarme aus kleinen Kanälen und Bächen das Land im Süden nährten, floss ungebändigt dahin.
»Jenseits der Täler gibt es verborgene Tempel, die Hunderte von Jahren alt sind«, erklärte Papa und
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