Goldener Bambus
sehen.«
Tränen stiegen mir in die Augen. Doch ich war nicht die Einzige, die sich in »Amazing Grace« verliebt hatte. NaiNai wollte, dass ich das Lied lernte, um es auf ihrer Beerdigung zu singen.
Carie hatte ein monströses Instrument, das sie »Klavier« nannte und auf dem sie sich oft beim Singen begleitete. Sie saß auf einem Stuhl davor, den Saum ihres Kleides auf dem Boden, und ließ die Finger über die Tasten tanzen. Wir haben viele Sonntagnachmittage zusammen verbracht, an denen sie mich Wort für Wort »Amazing Grace« lehrte. Wenn ich dann nach Hause kam, trug ich das Gelernte Papa und NaiNai vor.
Amazing grace,
How sweet the sound
That saved a wretch like me.
Ich sang so, wie ich eine chinesische Oper singen würde, laut und inbrünstig.
I once was lost but now am found,
Was blind but now I see.
Papa und NaiNai gefiel das Lied, und sie warteten darauf, dass ich weitersang. Doch ich musste ihnen sagen, dass ich noch nicht mehr gelernt hatte.
Papa schwieg eine Weile, dann sagte er: »›Amazing Grace‹ ist zwar ein ausländisches Lied, aber es handelt von uns, denn wir sind verloren, verwirrt und haben Angst.« NaiNai stimmte ihm zu. »Weide«, sagte sie, an mich gewandt, »lern auf jeden Fall das ganze Lied, denn es kann sein, dass ich bald gehen muss.«
Ich fragte NaiNai, ob sie in den Himmel ging, und wenn ja, ob sie meine Mutter treffen würde. NaiNai nickte. »Deine Mutter würde dich gern ›Amazing Grace‹ singen hören.«
Ich ging zu Carie und bat sie, mir den Rest des Liedes beizubringen, und sie willigte freudig ein. Ich setzte mich neben sie ans Klavier, und sie fing an:
The Lord has promised good to me,
His word my hope secures;
He will my shield and portion be,
As long as life endures.
Jetzt veränderte sich Caries Stimme, der Klang wurde zart, erinnerte mich an einen sanft plätschernden Bach in einer Wiese.
And mortal life shall cease;
I shall possess, within the veil,
A life of joy and peace.
Wang Ah-ma erzählte uns, dass Carie nach ihrer Ankunft in China vier Kinder verloren hatte. »Ich kenne keine Frau, der Schlimmeres widerfahren ist. Vier Jungen«, sagte Wang Ah-ma seufzend und hielt vier Finger hoch.
Laut Wang Ah-ma hatte Carie die Namen der vier toten Söhne in das Kopfteil ihres Bettes geritzt. »Jeden Abend vor dem Schlafengehen spricht die Herrin zu ihren Seelen.«
Wir wollten wissen, was Absaloms Familie aß und wie das schmeckte.
»Käse und Butter«, sagte Wang Ah-ma, steckte sich den Finger in den Hals und tat, als müsse sie brechen. »Das schmeckt wie verdorbener Tofu.«
»Und Pearl?«, wollte ich wissen.
»Pearl hat einen chinesischen Magen.« Wang Ah-ma lächelte anerkennend. »Pearl isst, was ich esse. Sie ist stark wie ein Ochse.«
»Dann wird sie nicht sterben wie ihre Brüder?«, fragte ich.
Wang Ah-ma senkte die Stimme. »Ich verstehe nicht, warum vier von Caries Kindern sterben mussten«, sagte sie flüsternd. »Sie hatten die gleiche Krankheit wie die chinesischen Kinder, und warum haben die überlebt? Pearls Körper hat gelernt, die Krankheit wie ein Chinese zu bekämpfen. Buddha sei Dank, ist es ihr gelungen!«
Die Zuhörer nickten bewundernd. »Du bist ein Glück für deine Herrin, Wang Ah-ma!«
Wang Ah-mas Gesicht erblühte wie Lotos im Sommer. »Pearl isst zwei Mahlzeiten, eine mit den Bediensteten in der Küche und eine mit den Eltern. Das Kind hat einen unglaublichen Appetit. Pearl mag Sojanüsse, Lotossamen und geröstetes Seegras. Doch am liebsten isst sie Pfannkuchen mit Frühlingszwiebeln, die ich jede Woche extra für sie kaufe.«
Ich hätte es kommen sehen müssen. Pearl erwischte mich, als ich den Mund voll Pfannkuchen hatte, gestohlen von Wang Ah-ma. Sie hatte auf den richtigen Moment gewartet, wo es auch einen Zeugen gab. Meine Hand steckte noch in Wang Ah-mas Korb, die bis dahin nichts gemerkt hatte.
Pearl zerrte mich zu Carie, die am Klavier saß.
Die ganze Stadt verfolgte das Schauspiel.
Papa und NaiNai wurden gerufen.
»Eine Ratte weiß von Natur aus, wie man sich ein Loch gräbt«, jauchzten die Kinder. »Was soll man auch erwarten, wenn der Vater mit schlechtem Beispiel vorangeht.«
»Ich habe sie auf frischer Tat ertappt«, erklärte Pearl.
Carie sah nicht ihre Tochter, sondern mich an.
»Du hast das nicht getan, nicht wahr, Weide?«, fragte Carie und schloss den Klavierdeckel.
Aus Angst, Papa und NaiNai würden vor den ganzen Leuten das Gesicht verlieren, log ich einfach. »Nein, hab ich
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