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Goldener Bambus

Goldener Bambus

Titel: Goldener Bambus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anchee Min
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es ihm besonders angetan.
    Carie war im Vergleich zu NaiNai eine kräftige Frau. Sie hatte hellbraune Augen, ein bleiches, rundes Gesicht voller Falten und braune Locken, die unter ihrer ulkigen Kopfbedeckung, genannt »Haube«, versteckt waren. Das ganze Jahr über trug Carie dunkle Kleider, die alle die Farbe von Seetang hatten und so lang waren, dass sie den Boden fegten.
    Carie warnte ihren Mann vor Papa, dem sie nicht traute. Doch obwohl Papa sich weigerte, regelmäßig in den Sonntagsgottesdienst zu kommen, betrachtete Absalom ihn als guten Freund.
    Wie ein richtiger Schauspieler gaukelte Papa ihm Interesse vor – und gab mir damit Gelegenheit zum Stehlen. Nachdem ich die Fußmatte aus der Kirche mitgenommen hatte, jammerte Carie am nächsten Tag: »Die Haushaltsführung kann ich mir sparen, es ist ja nichts mehr zum Führen da!«

2 . Kapitel
    A
ls Absalom seine Bibelzeichnungen hochhielt, fragte ich ihn nach den bärtigen Männern mit den Goldreifen über dem Kopf. »Warum gehen sie in Betttüchern durch die Wüste?«
    Absalom wusste nicht, dass ich ihn mit meinen Fragen nur ablenken wollte, um weiter stehlen zu können.
    Er hatte sowieso Mühe, sich zu konzentrieren. Immer wieder wurde er von den Rufen der Leute unterbrochen. »Wann kriegen wir was zu essen, Meister Absalom? Können Sie Gott bitten, uns sofort was zu essen zu bringen?«
    Während Absalom sprach, zogen Kinder an seinen Armen und schubsten ihn umher. »Wer ist Jungfrau? Wer ist Maria?«
    »Wer ist Madonna?«, fragte ich laut und hängte mich an ihn wie ein Blutegel. Meine Hände verschwanden in seinen Taschen.
    Als er mich mit den Worten »Jesus liebt dich« segnete, hatte ich bereits seine Geldbörse eingesteckt.
     
    Auf einer Nebenstraße rannte ich aus der Stadt. Da ich merkte, dass mir jemand folgte, lief ich kreuz und quer, doch den Blick der zwei blauen Augen spürte ich weiter im Rücken. Diese Augen gehörten einem Mädchen mit cremeweißer Haut und einer schwarzen Strickmütze auf dem Kopf. Sie war ein bisschen jünger als ich und saß immer mit einem ledergebundenen Buch in der Ecke des Kirchenzimmers. Ihr Blick sagte: »Ich habe dich gesehen.«
    Ich wusste, dass sie die Tochter von Absalom und Carie war und Pearl hieß. So hatte die Hausangestellte sie genannt, mit der sie Chinkianger Dialekt sprach. Ihrer Mutter und ihrem Vater schien sie nie helfen zu müssen, denn sie war immer allein und las die ganze Zeit.
    Ich wollte sie loswerden und rannte, so schnell ich konnte, an Weizen- und Baumwollfeldern entlang zu den Hügeln. Als ich nach ein paar Kilometern stehen blieb und mich umblickte, war sie nirgends zu sehen. Erleichtert atmete ich tief durch, setzte mich auf den Boden und freute mich über meinen Erfolg.
    Gerade wollte ich die Geldbörse öffnen, da hörte ich ein Geräusch.
    Jemand kam näher.
    Vor Schreck hielt ich die Luft an.
    Und drehte langsam den Kopf.
    In den Büschen hinter mir leuchteten zwei blaue Augen.
     
    »Du hast meinem Vater die Geldbörse gestohlen!«, schrie Pearl mich an.
    »Nein, hab ich nicht.« Ich hatte das Essen schon vor Augen, das ich mit dem Geld kaufen konnte.
    »Doch, das hast du.«
    »Beweis es!«
    »Er ist in deiner Tasche.« Sie legte ihr Buch hin und wollte in meine Tasche greifen.
    Ich stieß sie mit dem Ellbogen weg.
    Sie fiel hin.
    Ich umklammerte die Geldbörse.
    Sie sprang auf, die rosa Lippen zitternd vor Wut.
    Wir starrten uns an. Sie hatte Schweißperlen auf der Stirn. Ihre Haut war kalkweiß, die Nase spitz. Während ihr Vater einen falschen Zopf trug, um chinesisch auszusehen, hatte sie ihre blonden Locken unter der Strickmütze versteckt und ein mit indigofarbenen Blumen besticktes chinesisches Gewand an.
    »Das ist deine letzte Chance, mir die Geldbörse zu geben, oder ich tue dir weh«, drohte sie.
    Ich sammelte Speichel im Mund und spuckte.
    Während sie ihre Hände schützend vors Gesicht hob, rannte ich weg.
     
    Pearl verfolgte mich durch die Felder und den Hügel hoch und runter. Schließlich erwischte sie mich, doch da hatte ich die Geldbörse schon versteckt. Die Hände in der Luft, rief ich: »Komm doch und durchsuch mich.«
    Sie kam und fand nichts.
    Ich lächelte.
    Keuchend riss sie sich die Mütze vom Kopf. Goldene Locken fielen ihr ins Gesicht.
     
    Von da an folgte sie mir überallhin. Ich fand keine Gelegenheit mehr zu stehlen und überlegte Tag und Nacht, wie ich sie loswerden konnte. Da erfuhr ich, dass sie eine jüngere Schwester namens Grace hatte. Wang

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