Goldener Bambus
nicht.«
Carie stand auf, um Papa und NaiNai zu begrüßen. Mit freundlicher Stimme sagte sie: »Es tut mir leid, meine Tochter hat einen Fehler gemacht.«
»Aber Mutter!«, rief Pearl aus. »Ich habe Weide auf frischer Tat ertappt!« Sie wandte sich an Wang Ah-ma. »Bitte, Ah-ma, sag Mutter die Wahrheit …«
»Herrin.« Wang Ah-ma trat einen Schritt vor. »Pearl hat keinen Fehler gemacht …«
Carie bedeutete ihr mit der rechten Hand zu schweigen und sagte: »Ah-ma, die Suppe auf dem Herd kocht.«
»Sie kocht nicht, Herrin, ich habe gerade nachgesehen.«
»Dann sieh noch einmal nach«, erwiderte Carie.
»Ja, Herrin.« Wang Ah-ma nickte. »Ich gehe jetzt. Trotzdem, Herrin, Pearl hat recht mit dem Pfannkuchen. Weide hat ihn gestohlen.«
»Nein, das hat sie nicht«, sagte Carie noch einmal, ohne jemanden anzusehen.
NaiNai und Papa tauschten erleichterte Blicke aus.
»Mutter!« Tränen rannen über Pearls Wangen. »Du kannst die Zwiebeln in Weides Atem riechen!«
»Es reicht, Pearl.« Carie machte eine abwehrende Handbewegung.
»Ich schwöre zu Gott.« Pearl begann zu schluchzen.
»Geh und hilf den Mittagstisch decken«, sagte Carie. »Dein Vater kommt gleich nach Hause.«
»Mutter, ich habe nicht gelogen!«
»Das habe ich auch nicht gesagt, Pearl.«
An dem Nachmittag ging es mir schlecht. Mein Hals fühlte sich an wie in einer Schraubzwinge. Ich lief den Hügel hinauf und saß allein da, bis die Sonne unterging und die Schiffer zurückkehrten. Nebel legte sich auf das Flussufer, und Feuchtigkeit beschwerte meine Lungen. In der Nacht konnte ich nicht schlafen. Die Scham hielt mich wach. Pearls verweintes Gesicht vor Augen, stand ich schließlich auf und gestand Papa und NaiNai, dass ich den Pfannkuchen genommen hatte.
Sie waren nicht überrascht.
3 . Kapitel
I
n den Teehäusern wurde der Frühling mit Festen eingeläutet. »Männer der Worte« versammelten sich um blühende Kamelien, Pfirsich- und Pflaumenbäume und schrieben Gedichte. Papa liebte die Feste und ich die Pfirsichblüten, die aussahen wie rosa Wolken. Dann kam der April und mit ihm das feuchte Wetter. In Südchina gab es keine Regenschauer, nur unaufhörlichen Nieselregen. Wenn ich den Arm ausstreckte, fielen keine Tropfen darauf, doch sobald ich das Haus verließ, war ich in Feuchtigkeit gehüllt. Nach zehn Minuten im Freien waren meine Kleider durchweicht und mein Gesicht patschnass. Die Haare hingen mir in feuchten Strähnen vom Kopf.
In nur einem Monat stieg der Fluss um mehrere Zentimeter. Wasser und Himmel hatten die gleiche graue Farbe. Es wimmelte von Kröten, Aalen, Regenwürmern und Blutegeln, und die unbefestigten Wege waren alle aufgeweicht. Der Bambus gedieh prächtig und würde bei Sommeranfang die Südhänge der Hügel bedecken.
Meine Zähne waren grün von den Seidenpflanzen, die ich kaute. Ich war gerade neun geworden. Es fiel mir schwer, nicht wieder zu stehlen, und ich dachte oft an San-bao, den Jungen, der uns beim letzten chinesischen Neujahrsfest besucht hatte. Er war siebzehn Jahre alt, ein entfernter Verwandter und Lehrling beim örtlichen Schmied. Eigentlich dachte ich vor allem an die Sojanüsse, die er mir versprochen hatte. Wann ich das Geschenk wohl bekommen würde?
Meine Füße trugen mich zu San-baos Werkstatt. Ich wünschte, ich hätte schönere Kleider gehabt. San-bao war überrascht, mich zu sehen. Er hatte eine schmutzige Schürze um, und sein Oberkörper war nackt. Die dicken Adern unter seiner Haut sahen aus wie Würmer. Er war ein starker, fröhlicher Mann mit einem Kiefer wie ein Pferd. Warum ich gekommen sei, fragte er und legte den Vorschlaghammer beiseite.
Die Wahrheit konnte ich ihm nicht sagen, nämlich dass ich wegen der Sojanüsse da war. Also behauptete ich, gerade in der Gegend gewesen zu sein. Er lächelte erfreut.
»Hast du schon gegessen?«, fragte er kurz darauf.
»Nein.« Ich schämte mich für meine zu schnelle Antwort.
»Was möchtest du denn haben?«
Ich konnte meine Zunge nicht im Zaum halten und sagte: »Ich mag Sojanüsse.«
»Oh, stimmt, Sojanüsse.« Ihm fiel sein Versprechen wieder ein. Er bat mich zu warten und verschwand in der Werkstatt. Als er wiederkam, sagte er: »Wir machen einen Spaziergang, und ich kaufe dir Sojanüsse.«
San-bao hatte die Sojanüsse kaum bezahlt, da griff ich nach der Tüte.
»Nein, noch nicht.« San-bao hielt sie fest. »Ich will nicht, dass die Bettelkinder über dich herfallen. Wir suchen uns einen schönen Platz zum Sitzen.«
Ich
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