Goldener Reiter: Roman (German Edition)
den Erdbeertortenmatsch in ihrem Mund sehen. Klasse, sagt sie, es regnet. Hihi. Was machen wir als Nächstes?
80
Das ist meine Märchenplatte, sage ich. Ich habe die Tür zum Wohnzimmer aufgemacht. Ich habe schon eine Weile vor der Tür gestanden und zugehört. Der Wolf und die sieben Geißlein . Meine Platte. Meine Mutter steht vor dem Fenster zur Straße und hört sich meine Märchenplatte an. Sie schaut durch die Gardine nach draußen.
Na und?, sagt sie.
Du kannst ja mal fragen, sage ich. Immerhin gehört die Platte mir.
Du hörst sie gar nicht mehr, sagt meine Mutter. Sie lag auf dem Dachboden, Joni. Auf dem Dachboden ! Ich habe sie mir vom Dachboden geholt!
Es stimmt. Ich höre die Platte nicht mehr. Es ist Jahre her, dass ich sie zum letzten Mal gehört habe. Wenn ich ehrlich bin, habe ich vergessen, dass es die Platte gibt. Früher war sie meine Lieblingsmärchenplatte. Der Wolf und die sieben Geißlein . Mein Lieblingsmärchen, früher. Jetzt bin ich zu alt für Märchen. Und meine Mutter ist auch zu alt für Märchen, schon lange.
Warum hörst du Der Wolf und die sieben Geißlein ?, frage ich.
Ich hatte Lust dazu, sagt meine Mutter, ohne mich anzugucken.
Ich schüttel den Kopf, aber sie kann es nicht sehen. Der Märchenonkel erzählt die Stelle, wo die Geißlein die Tür aufmachen, weil der Wolf seine Hand mit Mehl weiß gefärbt hat. Sie halten den Wolf für ihre Mutter. Als sie sehen, dass es doch der Wolf ist, verstecken sie sich, so schnell sie können. Aber der Wolf findet sie alle, bis auf das jüngste Geißlein, das sich im Uhrenkasten versteckt hat. Die Märchenplatte fängt mit einer Melodie an. Die würde ich gerne wieder einmal hören, diese Melodie.
Ich finde das komisch, sage ich.
Da ist sie schon wieder, sagt meine Mutter.
Wer?, frage ich.
Die von gegenüber.
Der Wolf und die sieben Geißlein ist zu Ende. Was rumpelt und pumpelt in meinem Bauch. Die Platte knackt in der Leerrille. Meine Mutter steht vor dem Fenster.
Sie beobachtet uns, sagt sie.
Lass sie doch, sage ich.
Sie steht hinter der Gardine, sagt meine Mutter.
Mama, sage ich.
Sie guckt hier rüber. Sie spioniert mir nach.
Mama, sage ich. Lass sie doch.
Was will sie von mir?, sagt meine Mutter. Ich weiß nicht, was sie von mir will.
Ich gucke an meiner Mutter vorbei aus dem Fenster. Ich kann nicht erkennen, ob gegenüber hinter der Gardine jemand steht und guckt oder nicht. Es ist mir egal. Es interessiert mich nicht. Was mich interessiert, ist, dass meine Mutter hinter der Gardine steht und guckt. Das interessiert mich. Und dass sie Märchenschallplatten hört.
Diese Schlange, sagt meine Mutter.
81
Wo willst du mit dem Schwert hin?, frage ich von der Treppe. Meine Mutter steht mit dem Schwert in der Hand im Flur. Als wäre sie die Anführerin der Rebellen vom Liang Shan Po. Aber sie hält das Schwert nicht richtig. Sie muss das Schwert mit beiden Händen am Griff halten.
Das Ding kommt auf die Polizei, sagt sie.
Warum denn das?, frage ich. Was soll das?
Warum will sie das Schwert weggeben? Das Schwert gehört auch ein bisschen mir. Es hat einmal meinem Vater gehört. Es ist ein japanisches Schwert. Es hing über der Heizung an der Wand. Ich habe es mir oft angeguckt. Ich stand davor und habe es mir angeguckt. Wenn meine Mutter nicht da war, habe ich es heruntergeholt und Übungen damit gemacht. Es ist ein Samurai-Schwert. Mit einer langen, schwarzen Hülle aus Holz und einer silbernen Klinge, in der man sich spiegeln kann. Ein echtes Schwert. Nicht so ein Spielzeugschwert, wo noch ein Brustpanzer und ein Schild aus Plastik dazugehören. Mein Vater hat es von einer Reise mitgebracht.
Es ist gefährlich, sagt meine Mutter. Es ist eine Bedrohung. Ich möchte es nicht im Haus behalten, keinen Tag länger.
Es ist doch nicht gefährlich, sage ich. Was soll denn das, Mama? Es ist doch auch mein Schwert. Bitte, Mama, nicht.
Jonas, das Ding bleibt nicht im Haus. Ich kann das nicht. Eines Tages passiert noch etwas.
Was soll denn passieren, was soll denn die Polizei denken?, sage ich. Meine Mutter guckt mich an.
Die werden das verstehen, sagt sie. So ein Ding ist eine gefährliche Waffe und hat in einem Haushalt mit Kindern nichts verloren. Die sollen es nehmen.
Mama, das Schwert tut doch keinem etwas, sage ich. Ich verspreche dir, dass ich es nicht anrühre.
Meine Mutter geht mit dem Schwert an mir vorbei die Treppe hoch. Ich bleibe auf der Treppe sitzen und sehe ihr nach. Ich höre, wie die Schranktür
Weitere Kostenlose Bücher