Goldener Reiter: Roman (German Edition)
von meinem Atem. Ich schaue in den Garten. Das Kirschlaub hat sich rot gefärbt. Der Garten sieht aus, als würde er brennen. Das Gras ist hoch und dunkelgrün und der Kirschbaum brennt. Ab und zu fällt ein rotes Kirschblatt auf das grüne Gras hinunter. Ich stehe mit einer Ovomaltine vor der Scheibe. Ich schaue in den Himmel empor. Ein bisschen grauer Himmel zwischen Kirschlaub und Lärmschutzmauer. Das Grau vom Himmel leuchtet, weil sich irgendwo in diesem Grau die Sonne versteckt.
Dann fängt das Haus an zu zittern. Das habe ich noch nicht erlebt. Unter meinen Füßen zittert der Boden. Die Mauern zittern. Das Geschirr in den Schränken klappert. Draußen im Garten fällt das Laub vom Kirschbaum. Mir fällt auf, dass ein Dröhnen in der Luft liegt, es war schon länger da, es war mir bloß nicht aufgefallen. Das ist Fluglärm, denke ich. Das ist der Lärm von einem Flugzeug. Das kenne ich. Einflugschneise nennt man das. Aber jetzt dröhnt es, als würde mir der Himmel auf den Kopf fallen. Das ist nicht normal. Das ist viel lauter als sonst.
Ein Flugzeug schiebt sich über die Lärmschutzmauer. Es sieht viel zu nah aus. So nah darf kein Flugzeug über unser Haus fliegen. Es dauert zu lange. In Zeitlupe schiebt sich der Bauch von dem Flugzeug über unseren Garten, über mich hinweg und nimmt mir den Himmel. Das geht nicht, denke ich. Das geht ganz einfach nicht.
Dann habe ich die Ovomaltine weggestellt. Ich bin im Flur. Ich habe meine Jacke angezogen und meinen Haustürschlüssel eingesteckt. Ich will nicht im Haus sitzen, wenn ein Flugzeug abstürzt. Ich will nicht, dass mir das Flugzeug auf den Kopf fällt. Ich will es sehen können. Ich will ausweichen können.
Der Lärm ist leiser, das Düsengeräusch hängt in der Luft wie eine Wolke, wie Insektenspray, das man in einem Zelt versprüht hat. Ich knalle die Haustür hinter mir zu. Ich renne an geparkten Autos und Vorhängen vorbei. Erst auf der Autobahnbrücke bleibe ich stehen.
Das Flugzeug fliegt einen Kreis über die Häuser. Es taumelt in der Luft. Mir fallen die Menschen ein, die in dem Flugzeug sitzen. Es ist komisch, sich das vorzustellen. Ich sehe das Flugzeug an. Hinter den Fenstern sitzen Leute und starren hinaus. Sie sehen mich hier unten auf der Brücke stehen. Sie schreien, weil sie wissen, dass sie abstürzen werden. Sie stürzen ab und ich stehe unten auf der Straße und sehe ihnen dabei zu.
Das Flugzeug kommt tiefer. Es fliegt über die Autobahn. Das Fahrwerk ist ausgefahren, das macht ein Pilot vor der Landung. Ich stehe auf der Autobahnbrücke. Ich habe Blei in meinen Beinen und in meinem Bauch brennt es.
Das Flugzeug knickt die Lichtmasten um.
Es drückt sich in die Häuser, schiebt sie zur Seite wie Bauklötze. Die Häuser fallen in sich zusammen. Die Tragflächen brechen. Ich kann nur noch das Ende vom Flugzeug sehen, das über der Autobahn hängt. Dann fällt mir der Lärm auf, meine Ohren fallen auf die Erde und ich liege auf dem Boden und habe die Arme über dem Kopf und ich fühle etwas Heißes über mein Gesicht rinnen. Und ich fühle einen Wind und es prasselt um mich herum und ich liege auf einer Autobahnbrücke und ich schreie wie die Menschen, die kurz vorher noch im Himmel waren.
Dann gehe ich meine Straße hinunter. Ich glaube, dass ich weine. Ich komme mir vor wie das Kind auf dem Foto im Stern , das weint und nackt mit hängenden Armen auf einer Straße läuft, weil eine Bombe gefallen ist. Wo sind denn die Häuser? Wie kann es denn so aussehen? Wo sind die Nachbarn? Ich höre Feuerwehrsirenen. Ich höre Krankenwagen. Ich höre Explosionen und Feuer und ich sehe gar nichts mehr. Wo ist denn meine Mutter? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Wo ist meine Mutter?, frage ich einen Mann, der unter Steinen liegt und stöhnt. Dem Mann läuft etwas Rotes über das Gesicht.
85
Mama, sage ich. Ich brauche neues Geld. Das Geld ist alle. Ich brauche neues Geld, weil ich einkaufen muss. Du musst mir neues Geld geben.
Ja, sagt meine Mutter. Ihre Stimme kommt leise aus dem Hörer. Wann kommst du mich besuchen?
Morgen, sage ich. Wie geht das mit dem Geld? Mama!
Meine Mutter sagt nichts.
Ich stehe mit dem Hörer in der Hand vor dem Spiegel. Aber ich mag mich nicht angucken. In der Nacht habe ich geträumt, wie ich vor dem Spiegel stehe. Dabei war es gar nicht dieser Spiegel. Ich stand vor dem Spiegel und guckte meine Zähne an. Ich hatte kleine braune Schneidezähne. Meine normalen großen Schneidezähne wuchsen links und
Weitere Kostenlose Bücher