Goldener Reiter: Roman (German Edition)
René. Das weiß jeder.
Stimmt, sage ich. Wir schauen beide aus dem Fenster.
Wir stehen in der Schlange. Bei der Trabrennbahn muss man an einem Kassenhäuschen Eintritt zahlen. Wie im Zoo oder im Schwimmbad. Männer stehen vor uns, fast nur Männer, fast keine Frauen. Eine Frau, die weiter vorne in der Schlange steht, hat Locken bis zum Po. Die Locken haben die gleiche Farbe wie die Haut von der Frau.
René geht vor mir in das Tribünengebäude hinein.
René, sage ich und halte ihn am Ärmel fest. Um uns herum ist Gewühl. Eine Lautsprecherstimme sagt schnell hintereinander irgendwelche Namen. René bleibt stehen und guckt mich an.
Was?
Es ist komisch. Ich habe vergessen, was ich sagen wollte. Eigentlich wollte ich etwas sagen.
Was?, fragt René.
Ich blicke mich um, den Menschen ins Gesicht. Ich würde gerne sagen, dass ich froh bin, allein zu Hause zu sein. Dass es gut ist, dass meine Mutter im Krankenhaus ist und ich nachts nicht mehr aufwachen muss, um auf sie aufzupassen. Aber dass sie mir trotzdem fehlt und es gut ist, wenn jemand da ist, der einen morgens weckt und abends Gute Nacht sagt. Für ein Kind ist es gleichzeitig gut und schlecht, eine verrückte Mutter im Krankenhaus zu haben. Das würde ich gerne sagen. Firefox , höre ich die Lautsprecherstimme sagen. Jedenfalls glaube ich, dass sie das sagt.
Nichts, sage ich. René zuckt die Schultern.
Komm, wir schließen eine Wette ab.
Ich muss meine Mutter wieder finden, sage ich. René ist schon ein paar Schritte weiter. Es kommt mir so vor, als müsste ich meine Mutter wieder finden. Als hätte ich sie verloren und müsste sie suchen.
René dreht sich um. Hast du Geld?
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Ich gucke die Frau an. Sie hat eine Zigarre im Mund, an der sie ab und zu saugt. Sie gibt Wölkchen an das Café ab. Sie schielt vor sich hin, in zwei Richtungen gleichzeitig. Sie bekommt alles mit, was links und rechts von ihr passiert. Das kommt von den Augen. Wie bei Vögeln. Die haben die Augen auch links und rechts am Kopf.
Ich trinke eine heiße Schokolade. Ich bin nicht sicher, ob sie mich anguckt oder nicht.
Vor dem Eingang steht eine Schmetterlingsskulptur. Die Skulptur sieht aus, als wäre sie aus Pappmaché gemacht. Ich stelle mir vor, wie fünfzig Irre Pappe und Papier kauen und auf die halb fertige Skulptur spucken müssen. Um die Skulptur herum ist ein Minigolfplatz. Wie Urlaub an der Ostsee. Kurzentrums-Urlaub. Die Blätter vor den Fenstern verfärben sich braun. Der Teppichboden ist grün. Die Tische und die Stühle sind orange und rot. Ein Mann kommt ins Café. Die Kellnerin trägt eine weiße Schürze und ein schwarzes Kleid wie in einem richtigen Café. Der Mann geht an einen Tisch, wo schon zwei Männer mit Brillen sitzen. Hallo, sagt der Mann zu dem einen mit Brille. Wie geht’s, was macht das Bein?
Wieso, sagt der Brillenmann, Sie müssen mich verwechseln.
Hm, macht der Mann. Er tut so, als wäre es ihm nicht unangenehm. Er setzt sich an einen eigenen Tisch und guckt in die Karte, die auf der Tischplatte liegt. Die beiden Männer mit den Brillen grinsen sich an. Was macht die Schulter, sagt der zweite Brillenmann.
Was machst du so?, fragt meine Mutter. Ich sehe meine Mutter an. Meine Mutter mit einer Tasse Kaffee in der Hand. Die Tasse auf dem Weg zu ihrem Mund.
Gestern Abend gab es einen Film mit Jerry Lewis, sage ich.
In dem Film musste Jerry Lewis auf ein japanisches Waisenkind aufpassen. Auf dem Flughafen haben die beiden Abschied voneinander genommen. Obwohl sie es nicht wollten, Abschied nehmen. Das Flugzeug war silbern und Jerry Lewis stand oben auf der Treppe. Der Junge hatte einen kleinen Koffer und hat sich nicht umgedreht. Und Jerry Lewis hat geweint, obwohl Jerry Lewis eigentlich komisch ist. Er hat geweint und ich habe auch geweint. Weil ich nicht wollte, dass die beiden auseinander gehen. Weil sie sich mochten. Weil sie das Einzige waren, was sie im Leben hatten.
Und wie war der Film?, fragt meine Mutter.
Gut, sage ich. Die Frau mit den Augen schielt an mir vorbei.
Meine Mutter zieht an ihrer Zigarette. Sie guckt mich aus diesen zurückgelassenen Augen an. Sie guckt mich an mit einer Falte auf der Stirn. Kommst du zurecht?, fragt sie.
Ja, sage ich. Mach dir keine Gedanken. Sie pustet den Rauch aus. Sie guckt mich schon nicht mehr an. Sie beobachtet den Arzt, der draußen am Fenster vorbeigeht.
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Du Arschloch!, brüllt meine Mutter. Sie brüllt den Arzt an, der in seinem Kittel neben einem Auto steht. Es ist ein rotes
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