Goldener Reiter: Roman (German Edition)
an.
Stangen haben wir hier vorne nicht. Die muss ich erst von hinten holen. Sie lächelt. Sie versucht zu lächeln. Aber ihr Lächeln funktioniert nicht, weil meine Mutter so böse guckt.
Nein, sagt meine Mutter. Sie schüttelt den Kopf.
Mama, sage ich.
Nein, sagt sie noch einmal. Sie können mir nichts vormachen. Die Kassiererin will aufstehen. Nichts da!, schreit meine Mutter. Sie schreit einfach los im Spar-Markt. Sie bleiben, wo Sie sind.
Herr Hertel!, ruft Frau Baumgart. Frau Baumgart sieht ganz klein aus. Sie hat rosaroten Lippenstift auf den Lippen. Sie presst die Lippen zusammen.
Was machen Sie mit den Zigaretten?, schreit meine Mutter. Sie hat die Fäuste geballt. Sie funkelt Frau Baumgart an.
Herr Hertel!?, ruft Frau Baumgart noch einmal. Sie soll nicht rufen. Es macht meine Mutter wütend.
Meine Mutter schreit: Sie vergiften mich mit Ihren Zigaretten! Sie haben da etwas hineingetan! Sie wollen mich abhängig machen! Sie können nicht ertragen, dass es mir gut geht! Ich lege meiner Mutter die Hand auf die Schulter. Sie können es einfach nicht ertragen! Ich greife nach ihrer Hand. Die Hand von meiner Mutter ist kalt. Meine Mutter schreit. Ich lege ihr die Hand auf den Mund. Sie heult. Sie versucht, mich loszuwerden. Sie greift nach den Zigaretten im Ständer. Herr Hertel kommt von der Wursttheke.
Soll ich die Polizei rufen?, fragt Frau Baumgart.
Nein, nein, sagt Herr Hertel. Herr Hertel ist der Leiter vom Spar-Markt.
Mama, sage ich.
Frau Fink, sagt Herr Hertel. Frau Fink, niemand will Ihnen etwas Böses. Er schaut meine Mutter an. Bitte, sagt er.
Die wollte da Haschisch reintun in die Zigaretten, sagt meine Mutter, als wir auf der Autobahnbrücke sind. Die Nachbarn haben sie angestiftet. Die wollen mich vergiften.
Mama, sage ich. Ich habe ihr den Arm um den Rücken gelegt. Niemand will dich vergiften. Sie wollte einfach nur die Zigaretten von hinten holen.
Die können nicht ertragen, dass es mir gut geht, sagt meine Mutter.
Mama, sage ich. Das stimmt nicht. Ich schaue auf die Autobahn hinunter. Unter uns rasen die Autos hindurch. Meine Mutter steht auf der Autobahnbrücke mit dem Kopf in den Wolken. Ihre Oberlippe zittert.
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Ich muss mir etwas zu essen machen. Ich habe seit dem Frühstück nichts gegessen. Jetzt ist es Nachmittag. Ich lasse mein Buch mit dem Rücken nach oben auf dem Bett liegen. Das mache ich eigentlich nicht. Eigentlich lege ich ein Lesezeichen zwischen die Seiten. Ich muss nachher noch meine Mutter anrufen. Ich hole das Schwarzbrot aus dem Kühlschrank. Ich kaufe abgepacktes Schwarzbrot, kein frisches wie meine Mutter. Abgepacktes Brot ist praktischer, das ist schon geschnitten. Ich hole die Margarine aus dem Kühlschrank. Ich nehme die Marmelade aus dem Küchenschrank. Ich kaufe Du-darfst-Marmelade, Geschmacksrichtung Sauerkirsche. Die ist nicht so süß. Da wird man nicht dick von. Das ist praktisch. Man kann davon essen und nimmt trotzdem ab. Abnehmen vom Kirschbroteessen. Da braucht man auch keine Brigitte-Diät zu machen wie meine Mutter. Ich schmiere mir zwei Kirschbrote. Ich trage sie auf dem Brett ins Wohnzimmer. Ich mache den Fernseher an. Löwenzahn . Mit Peter Lustig. Peter Lustig näht sich eine Latzhose aus schwarzem Stoff, weil er seinen Bruder besuchen will.
Was wäre, wenn ich ein Geschwister hätte?, frage ich mich. Ich sehe dem Regen zu, wie er von den roten Kirschbaumblättern tropft. Dann wäre ich jetzt nicht allein zu Hause. Das Geschwister würde im Schlafzimmer von meiner Mutter wohnen. Wir könnten richtiges Essen kochen. Wir könnten abends gemeinsam fernsehen, ich auf dem einen Sofa, das Geschwister auf dem anderen. Vor dem Einschlafen könnten wir uns noch Geschichten erzählen. Morgens würde mich das Geschwister wecken. Das Geschwister ist älter und hat schon Frühstück gemacht. Du musst zur Schule, sagt das Geschwister.
Das Telefon klingelt.
Es ist Mark, bloß Mark. Wie geht es dir?, fragt er.
Gut, sage ich. Und dir?
Ich soll dich fragen, ob deine Großmutter schon da ist.
Ja, sage ich. Die ist da. Alles in Ordnung.
Okay, sagt Mark.
Okay, sage ich. Ich lege den Hörer auf. Ich gehe zurück ins Wohnzimmer. Ich stelle mich ans Fenster, das auf die Straße geht. Ich stehe hinter der Gardine wie meine Mutter. Ich schaue zur Nachbarin hinüber. Ich mache den Fernseher aus und trage mein Brett in die Küche.
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Ich stehe vor der Scheibe der Terrassentür. Ich habe mir eine heiße Ovomaltine gemacht. Die Scheibe beschlägt
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