Goldener Reiter: Roman (German Edition)
erkennen.
89
Du musst mit der Isolierung aufpassen, sage ich. Ich stehe auf der Holzleiter, die zum Dachfenster führt. Ich zeige auf die Glaswolle, die unter der Folie hervorquillt. Wenn man sie berührt, juckt es stundenlang. Ich öffne den Riegel und klappe das Fenster aufs Dach. Ich stecke den Kopf durch die Öffnung. Der Lärm von der Autobahn klingt wie die Brandung am Meer. Ich kann auf die Autobahn gucken. Über die Lärmschutzmauer hinweg. Es ist dunkel und die Autos fahren durch oranges Licht. Mir ist kalt. Es ist windig hier oben. Ich habe nur meinen Schlafanzug an. René schläft bei mir. Wir haben unsere Matratzen auf den Dachboden gelegt, weil es besser ist, auf dem Dachboden zu schlafen. René steht unten und hält die Leiter fest.
Wir sitzen nebeneinander auf dem First. Es ist kalt an den Füßen, aber barfuß hat man den besten Halt. Es ist trotzdem gefährlich.
Geil, sagt René.
Guck mal in den Garten runter, sage ich.
Im Garten ist alles schwarz. Und man sieht von oben in die Äste des Kirschbaums. Der Kirschbaum ist fast kahl. Man kann in die ganzen Gärten gucken.
Ja, sagt René, aber er hat den Kopf in den Nacken gelegt. Er guckt sich die Wolken an, die das Licht von der Autobahn widerspiegeln. Geil, sagt er. Wie auf dem Dach der Welt.
Man kann bis zu den Garagen gehen, sage ich. Auf dem First entlang. Aber man muss vorsichtig sein.
Die Häuser sind miteinander verbunden. Man kann auf dem Dach spazieren gehen, ich weiß nicht, wann ich das zum ersten Mal gemacht habe. Reihenhäuser. Eigentlich ein lang gezogenes Haus mit einem Dach. Bis zu den Garagen. Man muss vorsichtig sein, dass kein Dachziegel hinunterfällt und man keinen Halt mehr findet. Das hat meine Mutter gesagt. Ich bin auch schon über das Dach gewandert, als meine Mutter noch zu Hause war. Joni, hat meine Mutter gesagt und mich angeguckt. Aber verboten hat sie es nicht. Ich finde es nicht gut, hat sie gesagt, seid bloß vorsichtig. Wenn Mark bei mir geschlafen hat. Meine Mutter hat nie etwas verboten. Nie.
Komm, sagt René. Er steht auf und hält sich am Schornstein fest. Er geht gebückt das Dach entlang, die Hände auf dem First. Er geht über das Dach von Niemanns. Unter diesem Dach sitzt irgendwo Frau Niemann. René steht freihändig und guckt in den Garten hinunter. Lass uns in den Garten pinkeln, sagt er. Er hat den First losgelassen.
René, sage ich. Er klettert das Dach hinunter. Bis zur Regenrinne.
Komm, sagt er. Er zieht seine Schlafanzughose herunter. Er setzt sich mit breiten Beinen auf die Ziegel. Er pinkelt einen Bogen in die Dunkelheit. Man hört es plätschern aus dem Dunkel. Ich denke daran, wie unten ein Igel im Gras sitzt und denkt, es regnet.
Ich klettere die Dachschräge herab. Ich mag nicht nach unten sehen. Kurz vor der Regenrinne bleibe ich stehen. Renés Bogen wird kleiner. Ich richte mich auf und ziehe die Hose herunter. Ich setze mich mit nacktem Po auf die Ziegel.
Er funkelt, mein Bogen. Man kann das Licht der Autobahn darin sehen. Es plätschert in Niemanns Garten. René hat seine Hose hochgezogen. Geil, sage ich. Wir lachen.
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Lass uns mal gucken, ob man was von der Pisse sieht, grinst René. Er sieht noch ganz verschlafen aus.
Au ja, sage ich. Dabei weiß ich gar nicht, ob ich die Idee gut finde. Ich war noch nie am Tag oben. Ich bin müde. Auf dem Dachboden kann man nicht so gut schlafen, weil es ungewohnt ist.
Komm, sagt René.
Ich öffne das Fenster. Die Autobahn klingt anders am Tag. Das Rauschen ist lauter. Es sind mehr Autos unterwegs. Manchmal nachts, wenn ich im Bett liege, spätnachts, klingt die Autobahn wie Walgesänge. Das habe ich bei Mark auf einer Kassette gehört. Wie sich Wale miteinander unterhalten. Wenn nur sehr wenige Autos unterwegs sind. Man hört sie schon von ganz weit herankommen. Man hört die Motoren einzeln. Sie heulen am Fenster vorbei, wie Wale.
Frau Niemann arbeitet im Garten. Sie harkt das Laub zusammen. René ist neben mir auf dem Dach. Hallo, ruft er. Er winkt zu Frau Niemann in den Garten hinunter. Ich halte es für keine gute Idee. Wir stehen auf dem Dach, in Schlafanzügen. Sie hat sich aufgerichtet und schirmt die Augen mit der Hand ab. Sie lässt die Harke fallen. Ich bin schon auf der Leiter. Ich bin fast schon unten. Ich höre Frau Niemann schreien.
Seid ihr verrückt geworden?, schreit sie. Geh da sofort runter, Junge! Runter vom Dach! Das kann ja wohl nicht wahr sein! Geh sofort runter da! Das ist ja lebensgefährlich!
Ich
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