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Goldener Sonntag

Goldener Sonntag

Titel: Goldener Sonntag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Garth Nix
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Trompete. Blatt fragte sich, wie der Schnitter wissen konnte, wo er hinmusste, denn er behielt die Geschwindigkeit bei und nahm von Zeit zu Zeit kleine Richtungsänderungen vor, als hätte er ein bestimmtes Ziel im Sinn.
    Schließlich sah Blatt weiter vorn etwas: einen einzelnen Bürger, von dem sie anfangs dachte, er stünde irgendwie merkwürdig da, bis der Schnitter sich zur Seite drehte und sie ihren Eindruck korrigieren musste. Der Bürger lag – oder schwebte – auf dem Rücken. Er trug einen Frack, der in dem grünen Licht türkis aussah, aber Blatt wusste, dass der Anzug in Wirklichkeit blau und die Epaulette auf der linken Schulter golden war. Sein rechter Arm hing schlaff an der Seite herab, und seine Finger hielten gerade noch so das Heft eines Schwerts fest, das mit einer geflochtenen goldenen Schnur an seinem Handgelenk befestigt gewesen war. Die Schnur war jetzt lose; eine Troddel hing über der Klinge, die andere war für immer verschwunden.
    Blatt wusste, dass dies der Leutnant Hüter der Vorderen Tür war, der Wächter des Vordereingangs, und obschon an einem Dutzend Stellen mattblaues Blut durch seinen Rock und seine Hose sickerte, war er noch nicht tot. Als der Schnitter sich über ihn beugte, hob er den Kopf.
    »Ihr kommt zu spät für den Kampf«, sagte er schwach. »Aber ich danke Euch.«
    »Ich habe es schon immer für unklug gehalten, dass Ihr allein im Eingang kämpft«, entgegnete der Schnitter. Er nahm die Sense in die Linke und schob den rechten Arm unter die Schulter des Leutnant Hüters. »Kommt, ich trage Euch fort! Mein Gebieter wird Euch neu machen.«
    »Nein«, der Leutnant Hüter schüttelte den Kopf. »Ich darf meinen Posten nicht verlassen, und ihre Klingen waren mit Nichts vergiftet. Ich werde bald eine geheimnisvollere Tür als diese hier durchschreiten.«
    Blatt, die dem Schnitter über die Schulter blickte, wischte sich eine Träne aus dem Auge. Sie war ebenso sehr eine Reaktion auf das, was geschehen war, wie auch Ausdruck ihres Kummers über den Tod eines Bürgers, den sie nicht einmal kannte.
    »Vergieße keine Tränen, Mädchen!«, sagte der Leutnant Hüter. »Um ehrlich zu sein, ich bin meiner unaufhörlichen Arbeit schon lange überdrüssig. Doch bevor ich erlöst werde, würdest du da bitte mein Schwert nehmen?«
    »Nein!«, rief der Schnitter, als der Leutnant Hüter mit einem letzten Aufbäumen seines Körpers das Schwert zu Blatt hochwarf und dann zusammengekrümmt und reglos liegen blieb, denn seine letzte Kraft und das letzte bisschen Leben, das noch in ihm gewesen war, hatte er in diesen Schlussakt strömen lassen.
    Blatt ließ ihr Kurzschwert fallen und fing die Waffe des Leutnant Hüters am Heft auf. Gleichzeitig schüttelte der Schnitter sie von seinem Rücken ab und machte einen Satz zur Seite. Noch im Sprung drehte er sich um und hob kampfbereit die Sense.
    Als Blatts Finger sich um das Heft schlössen, legte sich die goldene Schnur um ihr Handgelenk. In diesem Augenblick spürte sie, wie sich ein neuer Sinn in ihrem Geist entfaltete.
    Sie konnte den Vordereingang in all seiner Unermesslichkeit wahrnehmen, konnte seine unzähligen Ein- und Ausgänge fühlen, konnte die Gegenwart von Eindringlingen beinahe schmecken, sauer und unangenehm … Es war alles zu viel, sie schrie auf und kauerte sich nieder unter dem Druck der Sinnesüberlastung. Ihr fiel nicht einmal auf, dass der obere Teil ihres Strahlenschutzanzugs blau und weich und dann zu einem Frack wurde, genau wie ihn der tote Leutnant Hüter trug, während sich die untere Hälfte in eine weiße Bundhose und die Stiefel sich in schwarze Langschäfter mit spiegelblanken Vorderkappen verwandelten.
    Der Schnitter hob die Sense, schlug jedoch nicht zu. Stattdessen runzelte er die Stirn und benutzte die Waffe, um etwa drei Meter über Blatt emporzusteigen. Er befand sich immer noch in Schlagdistanz, unternahm aber nichts, bis das Mädchen sich langsam aus seiner kauernden Haltung erhob.
    »Mein Gebieter wird ergrimmt sein«, sagte der Schnitter.
    »Was?«, fragte Blatt. Sie versuchte immer noch, mit ihrer neuen Fähigkeit – zu fühlen , was im Vordereingang vor sich ging – klarzukommen, und es war schwierig, gleichzeitig zuzuhören oder zu reden.
    »Du bist jetzt der Leutnant Hüter der Vorderen Tür«, sagte der Schnitter. »Und deshalb kann ich dich nicht zwingen, mit mir zu kommen. Ich könnte dich natürlich töten, aber meine Anweisungen lauten anders.«
    »Wessen Anweisungen?«, fragte Blatt.
    »Die

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