Goldfalke (German Edition)
Fein hast du die Beute angelockt, mein braver Dschinn!“, sagte die Wildstreune gedehnt und strich dem schönen Mädchen mit höhnischer Zärtlichkeit über das vollkommene Haar. Dann griff die Wildstreune an.
Wie eine Katze sprang sie auf, die Hände zu Krallen gekrümmt. Kiana drehte sich zur Seite, trat nach der Angreiferin, traf sie in den Bauch und schleuderte sie gegen die Wand. Mit einem wütenden Fauchen stieß sich das Biest von der Wand ab, hechtete erneut auf Kiana zu. Und stoppte mitten in der Bewegung, als der Falke im Sturzflug die Treppe heruntergeschossen kam.
Die Wildstreune duckte sich, und ihr Dschinn beugte sich schützend über sie. Der Falke umflog die Prinzessin und griff die Wildstreune seitlich an. Diese schützte ihre Flanke mit hektisch wedelnden Armen, die bald blutige Schrammen zeigten, und kreischte: „Halt deinen blöden Vogel zurück, oder du erfährst nie, wo Elina ist!“
Kiana streckte den Arm aus und ließ den Falken auf ihrer Faust landen. Kurz durchströmte sie ein Gefühl der Macht, als sie mit dem Raubvogel auf der Hand auf ihre gebückte Feindin herabsah, doch dieses Gefühl verpuffte sofort wieder, als sich Kiana zu fragen begann, wer da wohl noch in diesem Treppenschacht lauern mochte.
Der heimtückische Dschinn der Wildstreune musste alles, was Kiana gesagt hatte, seiner He rrin gedanklich übermittelt haben. Oder vielleicht konnte die Wildstreune ja auch wie Kiana durch die Augen ihres Dschinns sehen. Oder es versteckten sich noch andere Augen hier in der Düsternis, die der Wildstreune alles verraten hatten.
Die falsche Prinzessin richtete sich auf, die Wildstreune dagegen blieb hinter ihr zusammengekauert in Deckung. Wie ein Tier. Bereit zur Flucht. Oder zum Angriff. „Du bist doch hier, um Elina zu finden, oder?“, äußerte sie schließlich. Die Worte klangen wie aus der Kehle hervorgewürgt, als sollte die Stimme tiefer erscheinen, als sie tatsächlich war.
Um ein Selbstbewusstsein vorz utäuschen, das sie jetzt gern gehabt hätte, straffte Kiana ihre Schultern. „Wo ist Elina?“
„Ganz unten im Verlies.“
„Führe mich hin!“, befahl Kiana. Und schon huschte die Wildstreune flink wie eine Ratte die Stufen hinunter, gefolgt von ihrem Dschinn. Und Kiana.
Wieso hatte die Wildstreune überhaupt einen Dschinn? Mussten die Menschenfresser Nesrin zufolge nicht ihre Dschinn-Energie an Damon abgeben? Anscheinend besaß die Wildstreune tatsächlich eine Sonderstellung unter ihnen.
Dann bebte die Erde.
Kiana strauchelte und kippte gegen die Wand, während der Falke aufflog. Eine Schrecksekunde später erlangte Kiana ihr Gleichgewicht zurück, obgleich die Erschütterungen unter ihren Füßen anhielten, wie auch das Geräusch, das seit dem Beginn des Bebens ertönte und irgendwo zwischen einem Dröhnen und einem Knistern lag. Noch nie zuvor hatte Kiana so etwas gehört.
Ein kurzer Rundumblick zeigte ihr, dass die Wildstre une und ihr Dschinn die Gelegenheit genutzt hatten, um in der Tiefe des Treppenschachts zu verschwinden.
Der Falke landete auf Kianas Schulter, während ihr in Windeseile die unterschiedlichsten Gedankenblitze durch das Hirn schossen, die allesamt in dem Drang endeten, so schnell wie möglich nach oben zu fliehen. Raus aus diesem Keller. Sie rannte los, die nach wie vor bebende Treppe hoch, nahm immer zwei Stufen auf einmal.
Damit ließ sie ihre Mutter endgültig im Stich!
W ar ihre Mutter überhaupt hier unten? Die Wildstreune und ihr Dschinn konnten gelogen haben. Ja, sie hatten sicher gelogen! Bestimmt setzte Kiana hier in diesem Keller unnötig ihr Leben aufs Spiel, während ringsumher ein Erdbeben tobte, das die Wände des Schachtes jederzeit zum Einsturz bringen konnte.
Trotzdem wurden ihre Beine langsamer, ausg ebremst durch ihr Pflichtgefühl und die Liebe zu einer Frau, die vielleicht schon seit gut sechzehn Jahren tot war. Argwöhnisch begutachtete Kiana die Wand des Treppenschachts, die weder Risse noch sonstige Schäden zeigte und den Erschütterungen ohne weiteres standzuhalten schien. Und eigentlich müsste das Erdbeben ja bald aufhören.
Oder?
Kiana konnte nicht anders, als erneut umzudrehen und weiter die Treppe hinunter zu eilen. Tiefer und tiefer drang sie in den Keller ein, immer auf der Hut vor einem möglichen Hinterhalt der Wildstreune, während das Erdbeben ungebremst andauerte. Unnatürlich lange.
Plötzlich ging ein starker Ruck durch den Keller. Mit einem Griff um die Eisenhalterung einer Wandfackel rettete
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