Goldfalke (German Edition)
Elina. Mit einer nachlässigen Bewegung ihrer rechten Hand brachte sie das Tuch unter Kontrolle und landete es sanft in dem langgezogenen Schatten, den die Felsformation der untergehenden Sonne abtrotzte. Schniefend wischte Elina ihre Tränen ab. „Abermals muss ich dich um Verzeihung bitten, kleine Schwester. Du riskierst alles, um mich zu retten, und anstatt dich zu unterstützen, bin ich dir nur eine Last. Aber ich kann nichts dagegen tun, der Schmerz …“, ihre Hände knäuelten die dunkelblaue Seide ihres Kleides zusammen, „… zerfetzt mich. So wie Damons Dschinn Rupert zerrissen hat, als er sich vor mich gestellt hat, um mich zu verteidigen. Mein Mann war so mutig. Er wusste, dass er gegen den mächtigen Löwen-Sultan keine Chance hatte. Und dennoch kämpfte er, als ich längst besiegt auf dem Boden lag. Ich hörte die letzten Atemzüge meines Mannes, fühlte, wie das Leben aus ihm wich, und konnte nichts tun. Nichts! Nicht einmal meine Heilkräfte konnten ihn mehr retten. Er war so … zerstört.“ Sie verbarg ihr Gesicht in den zitternden Händen.
Tröstend legte Kiana ihre Hand auf Elinas bebende Schulter und spürte beinahe körperlich, wie das unsägliche Leid ihrer Mutter durch ihre eigene Haut kroch. „Nicht weinen“, wisperte Kiana. „Bitte nicht weinen! Bitte …“ Ihre Stimme brach, und schon lagen sie und ihre Mutter sich in den Armen und weinten beide.
Irgendwann hatte die Wüste alle Tränen getrunken und strengte sich an, auch noch den Rest von Flüssigkeit aus den Trauernden herauszusaugen. Schwerfällig löste sich Kiana von ihrer Mutter. „Wir sollten weiterfliegen.“
„Ja, gewiss.“ Elina wischte über ihre Wangen und hi nterließ eine Spur aus Sand. „Vielen Dank für deinen Trost, liebe Schwester! Hat Damon dich nicht Kiana genannt, oder täusche ich mich?“
Auf das leise „Ja“ i hrer Tochter hin fuhr Elina mit einem traurigen Lächeln fort: „Ein schöner Name. Ich habe ein kleines Mädchen, das auch so heißt. Das jetzt ohne Vater aufwachsen muss.“ Ein neues Schluchzen schüttelte ihren zarten Körper, doch ihre Augen blieben trocken. Als wären sie zu ausgelaugt für neue Tränen.
Irgendetwas quoll in Kiana hoch, irgendetwas Drängendes, und brach nun ohne Vorwarnung aus ihr heraus: „Ich bin deine Tochter, und es ist mein Vater, den wir beweinen!“
Elinas Schluchzen brach ab. „ Was redest du da? Meine kleine Ki ist fast noch ein Baby, und du bist eine junge Frau!“ Ihre Augen wanderten von Kiana hin zur nächsten Sanddüne und weiter bis zum Horizont, ruhelos, als würden sie Dinge beobachten, die nur sie sehen konnten. „So viel Zeit kann unmöglich vergangen sein! Und doch …“ Elinas Stimme wurde so leise, dass man die Worte nur erahnen konnte: „Die vielen Krieger, die Damon mir zu heilen befahl - wie viel Zeit verfloss dabei? Ich konnte mich nicht wehren, der Schleier erdrückte meinen Geist. So musste ich heilen, immer wieder, gebrochene Beine, aufgerissene Ghulhaut, zerschmetterte Skorpionscheren, nach jedem Kampf unzählige Verletzte. Unzählige Kämpfe. Und dann dieses böse Mädchen mit ihren ständigen Zahnschmerzen. So viel Zeit! Sind sie tatsächlich vergangen, diese vielen Tage? Oder …“, würgend schluckte sie, „… Jahre?“
Kaum dass Kiana ein „Ja“ herausgebracht hatte, spürte sie auf ihrer Wange die Hand ihrer Mutter. Es war eine kurze, hauchzarte Berührung, wie von einer Flocke Schafswolle. Elinas Worte kamen genauso weich hervor: „Du bist … meine Tochter?“ Über ihr Gesicht jagten die unterschiedlichsten Gefühle: Ungläubigkeit, Verstehen, Argwohn, Kummer. Und wieder Verstehen. „Du siehst meiner Schwester ähnlich.“
Anscheinend hatte die Aufregung Elinas Wahrnehmung getrübt. „Du täuschst dich“, erklärte Kiana ihr. „Du siehst Tante Shabnam ähnlich, nicht ich.“
Elina s Stimme wurde bestimmter. „Du hast Shabnams Augenbrauen.“
„Und du hast ihren Mund.“
Elina drehte den Kopf zur Seite und strich sich über die Stirn. „Ich kann nicht glauben, dass ich hier sitze und diesen lächerlichen Disput führe. Verliere ich den Verstand?“
„Wenn ja, verlieren wir ihn gemeinsam.“ Auch Kiana kam sich vor wie in einer Geschichte, die falsch erzählt wurde. „Wir sind eben beide ein bisschen … verwirrt.“
„Ja, verwirrt.“ Elinas Versuch eines Lächelns misslang. „Geschieht das hier wirklich? Ich sitze nicht unter dem Lähmenden Schleier und werde wahnsinnig? Du bist wirklich meine
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