Goldfalke (German Edition)
beschäftigt. Ein kurzer Anflug von wildem Rachedurst ließ Kiana leidenschaftlich hoffen, dass Damon seine gesamte Menschenfresserhorde ausrotten würde, und am besten noch ein paar Ghule und Skorpionkrieger dazu, bis irgendeiner es schaffen würde, ihn von dem Lähmenden Schleier zu befreien.
„Wir müssen uns beeilen, zum Schimmernden Palast zu kommen“, sagte Elina. „Vielleicht schaffen wir es noch rechtzeitig zur Beerdigung.“
Kiana blinzelte verwirrt und richtete sich auf in eine sitzende Stellung. „Welche Beerdigung?“
Ohne dass das Seidentuch auch nur einen Fingerbreit von der eingeschlagenen Richtung a bwich und ohne dass sich sein raketenartiges Tempo erkennbar abschwächte, ließ Elinas Konzentration den Horizont los und richtete sich auf ihre Tochter. „Weißt du denn nicht, was geschehen ist? Du bist doch sicher von Soraya geschickt worden, um mich zu befreien, da musst du doch wissen ...“ Dann sackte ihr Kinn nach unten. „Oder war die Beerdigung etwa schon?“
Kiana konnte nur hilflos wiederholen: „Welche Beerd igung?“
„Die von Rupert … Rupert Smith … meinem Mann.“ Etwas Verkrampftes lag in Elinas Mundwinkeln und etwas Verzweifeltes in ihrer Stimme. „Wurde er etwa schon beerdigt?“
Allmählich sickerte die Erkenntnis in Kianas ausgezehrtes Hirn, dass ihre Mutter eine völlig falsche Vorstellung von der Zeit hatte, die seit ihrer Gefangennahme vergangen war. „Ja, die Beerdigung war schon“, erwiderte Kiana vorsichtig.
Und zwar bereits vor sechzehn Jahren. Aber wie nur sollte sie das ihrer Mutter beibringen?
Verblüffend schne ll verwandelte sich Elinas Miene von getriebener Unruhe zu übermächtigem Kummer. Dabei verzogen sich ihre Gesichtszüge noch nicht einmal. Zumindest nicht merkbar. Es waren allein die Augen, deren Licht von einem Wimpernschlag auf den anderen erlosch. Als wären sie tot. „Selbst ihm die letzte Ehre zu erweisen wurde mir verwehrt!“ Aufschluchzend sackte Elina in sich zusammen.
Und das Seidentuch ebe nso.
Der Stoff gab einfach nach und stürzte flatternd in die Tiefe. Kiana krallte sich daran fest. Ihre vor Schweiß rutschigen Finger glitten an der Seide ab, griffen panisch nach und verloren gänzlich den Halt.
Doch bevor Kiana abstürzte, schlossen sich die Fäuste ihrer Mutter mit überraschender Kraft um ihre Handgelenke und halfen ihr auf das Tuch, das jetzt wieder wie ein Brett in der Luft lag, sanft beschleunigte und bald seine vorherige Geschwindigkeit erreichte.
„Entschuldige bitte , liebe Schwester!“ Betroffen schlug Elina die Augen nieder und wischte die Tränen beiseite. „Es war unverzeihlich von mir, meinem Schmerz nachzugeben und dich in Gefahr zu bringen. Ich habe mich noch nicht einmal bei dir bedankt, dass du dein Leben riskiert hast, um mich zu retten!“ Sie nahm Kianas Hände. „Ich kann dir gar nicht genug dafür danken, dass du mich aus dieser Hölle befreit hast, und werde zeitlebens in deiner Schuld stehen. Mögest du auf ewig mit Freude und Gesundheit gesegnet sein! Doch sage mir: Wer bist du? Ich habe dich noch nie im Palast gesehen. Wo hat Soraya eine so machtvolle Zauberin wie dich gefunden?“
„Ich bin keine machtvolle Zauberin, ich bin …“ Noch immer wusste Kiana nicht, wie sie ihrer Mutter klarlegen sollte, dass sie ihre Tochter …, dass sechzehn Jahre …, dass … alles eben.
„ Welche Zauberin könnte machtvoller sein als du, junge Schwester? Du bist völlig auf dich allein gestellt in die Festung des Löwen-Sultans eingedrungen, hast ihn dazu gebracht, seinen Wesir zu töten und uns den Weg durch seine eigenen Anhänger freizukämpfen. Du hast Damon unter deinen Willen gezwungen. Noch nie hat jemand dies vermocht. Nicht einmal zusammen mit der Zauberkraft meines Mannes konnte ich gegen Damon etwas ausrichten.“ Ein Sturzbach aus Tränen strömte aus ihr heraus, als sie aus den Tiefen ihrer Trauer die nächsten Worte herausschluchzte: „Mein Mann starb bei dem Versuch, mich zu beschützen!“
Schon wieder verlor das Seidentuch an Festigkeit. Es schlug Falten, begann, an den Rändern zu flattern, und sank nach unten. Kiana hechelte ihr Erschrecken beiseite, krallte ihre Hände und ihre Gedanken in das Tuch, versuchte sich vorzustellen, es wäre ein Teppich - nur ein normaler fliegender Teppich, verdammt noch mal! - versuchte, vor der Felsformation wegzusteuern, auf die sie zu krachen drohten.
D ie Felsen kamen schnell näher.
Viel zu schnell.
Kurz vor dem Aufprall ging ein Ruck durch
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