Goldfalke (German Edition)
Tochter? Ist das wirklich wahr?“
Gerne hätte Kiana etwas Kluges gesagt, das ihrer Mutter die Landung in der Gegenwart e rleichterte, doch ihr fiel nichts ein.
Forschend tastete Elinas Blick über jede Einzelheit im Gesicht ihrer Tochter. „Meine kleine Ki? Kann das sein? Ich fühle mich wie in einem Traum innerhalb eines Traumes.“ Ihre Hände strichen über Kianas Wangen, erkundeten ihren Haaransatz. „Meine kleine Ki? Du bist es? Wo ist deine Kindheit hin? Wo sind all diese Jahre?“ Ihre Stimme schrumpfte zu einem Flüstern. „All die vielen Jahre.“
Wieder spürte Kiana den Druck von Tränen. Dabei hatte sie doch schon so viel e herausgeweint. Vorhin - und ihre ganze Kindheit über. Sie legte ihre Hand über die Finger ihrer Mutter, die noch immer ihr Gesicht streichelten und nun dabei heiße Tränen auffingen.
„Mein Kind!“ Endlich umarmte Elina ihre Tochter, drückte sie an sich, strich über ihren Rücken, schien nicht genug Arme dafür zu haben. „Mein armes, liebes Kind!“
Und zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sich Kiana wie eine Tochter.
Hilflos schmiegten sich alle von Kianas Gedanken in das unbeschreibliche Gefühl der Geborgenheit hinein, das die Umarmung ihrer Mutter in ihr auslöste. Kurz erlaubte sich Kiana das unsagbare Glück, so zu tun, als wäre jetzt alles erledigt, alles gewonnen, als wären alle Sorgen ausgelöscht. Doch die zunehmende Dunkelheit und das Wissen, meilenweit von jedem erreichbaren Wasser entfernt zu sein, zwangen Kiana, vorwärts zu denken. „Im Palast warten sie verzweifelt auf dich, Mutter. Wir müssen jetzt endlich los.“
Mutter - sie hatte „Mutter“ gesagt! Berauscht hörte sie dem Klang dieses Wortes nach.
Elina legte ihre Hände auf die Schultern ihrer Tochter. „Ich weiß gar nichts über dich. Was ist deine Lieblingsfarbe? Dein Lieblingsessen? Aber du hast Recht - dies ist nicht der richtige Ort und nicht die richtige Zeit.“ Nachdenklich runzelte sie die Stirn. „Wie kam Soraya die ganze Zeit ohne mich zurecht? Sie muss Unmenschliches ertragen haben! Wie hält sie das aus, all die Jahre? Sie ist doch nicht tot, oder?“
„Nein“, beeilte sich Kiana zu sagen. „Aber es geht ihr sehr schlecht. Sie braucht deine Hei lkräfte. Und meine Freundin Nesrin wurde von einem Riesenskorpion gestochen. Auch sie braucht deine Hilfe.“
Falls Nesrin noch lebte, aber entschieden verdrängte Kiana jede andere Möglichkeit.
Elina streckte ihren Rücken. „Ja, gewiss!“
Sofort wurde das Tuch, auf dem sie kauerten, wi eder bretthart, schwebte hoch in die Luft und sauste so schnell davon, dass es Kiana erschien, als würden sich die Sanddünen unter ihnen wie Wellen nach hinten bewegen. Da ihr bei diesem Anblick schwindlig wurde, starrte sie geradeaus auf den Horizont, der sich fast gänzlich in der Dunkelheit verlor. „Außerdem“, sagte sie, „müssen wir so schnell wie möglich Kassim benachrichtigen über Damons Plan, in zwei Tagen den Palast anzugreifen.“
Elina drehte sich um zu Kiana. „Wer ist Kassim?“
„ Der Befehlshaber der Palastkrieger.“ Kiana wünschte sich inständig, ihre Mutter würde sich bei dieser Wahnsinnsgeschwindigkeit wieder auf die Flugrichtung, das Tuch, das Fliegen überhaupt konzentrieren.
Elinas Augenmerk richtete sich jedoch uneingeschränkt auf ihre Tochter. „Der Befehlshaber der Palastkrieger ist Mahmud!“
Kiana hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. „Ich kenne nur Befehlshaber Kassim.“
„Andererseits … so viel Zeit ist vergangen.“ Gedankenverloren flocht Elina ihr wehendes Haar zu einem Zopf, als wollte sie das, was sie aus der Vergangenheit wusste, mit all den Neuigkeiten der Gegenwart verzwirbeln. „Mahmud ist alt und bestimmt schon im Ruhestand. Aber wer ist Kassim?“ Plötzlich ließ sie ihren Haarzopf fallen, den der Fahrtwind sofort wieder löste. „Doch nicht dieser unverschämte Unruhestifter, der jedem Mädchen hinterher steigt vom Bunten Basar bis zum Kristallgebirge?“
Kiana konnte sich viele A usdrücke vorstellen, die Befehlshaber Kassim gerecht wurden, doch Worte wie „unverschämt“ oder „Unruhestifter“ waren nicht darunter. Als sie nicht antwortete, fuhr ihre Mutter fort: „Es hat sich offenbar einiges geändert.“
Plötzlich entdeckte Kiana im Grauschwarz des Himmels einen noch dunkleren Punkt. „Da vorn ist irgendwas.“ Angestrengt versuchte sie, mehr zu erkennen. „Ja. Es kommt jemand auf uns zu.“ Fast wie von selbst glitt ihre Hand zur
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