Goldfalke (German Edition)
die Geschwindigkeit, die beängstigende, aufregende, wundervolle Geschwindigkeit, die Kianas vom Schal nur ungenügend gebändigte Haare flattern ließ und ihr Herz stolz machte. Stolz darauf, dass sie sich so schnell zu fliegen traute. Dass sie sich überhaupt zu fliegen traute.
Stolz auf sich. Zum ersten Mal.
Das fühlte sich so schön an , dass es sicher etwas Verbotenes war. Aber dennoch wusste Kiana, dass sie dieses Gefühl nie wieder missen wollte.
Sie wagte sogar leichte Links- und Rechtskurven, wu rde sicherer, mutiger. Der Schimmernde Palast kam immer näher. Die Sanddünen wurden flacher und liefen in eine große Ebene aus, die sich bis zur riesigen weißen Außenmauer der funkelnden Palastanlage ausdehnte. Ein Relief aus zarten Rosenranken zierte die gesamte Fläche der Mauer. Im Hintergrund warfen sich spitze Berge zu einem massiven Gebirge auf.
Bald konnte man erkennen, dass der eigentliche Palast kaskadenartig umschmiegt wurde von blühenden Gärten und Teichen und Ställen und Pferchen und Wiesen, alles innerhalb der mächtigen weißen Außenmauer. Kiana hatte noch nie etwas so Beeindruckendes gesehen.
Sie ließ sich hinter Fatima zurückfallen , schwebte staunend über Gartenpflanzungen, Getreideäcker und mit Kletterrosen umwucherte Natursteinmauern hinweg direkt auf das Hauptgebäude zu.
Im gleißenden Licht der Sonne wurde sofort klar, dass der Schimmernde Palast seinem Namen mehr als gerecht wurde. Unzählige Stockwerke, Zinnen, Balkone und Zwiebeltürme schillerten in sanften Pastelltönen, die sich je nach Betrachtungswinkel veränderten und dann doch wieder weiß aussahen. Der Palast war steingewordene Schönheit.
Kianas Seele verschluckte sich fast an all den Eindrücken, die im Vorbeiflug auf ihre Sinne trafen: das Leuchten des Sternenmosaiks über dem Hautportal, der weiße Geier, der auf einem Torbogen saß und „Die Schicksalswenderin, die Schicksalswenderin!“ krächzte, die aufgeregten Stimmen all der Leute dort unten, die goldene Statue mit dem Blashorn auf einer Säule, die zarten Weihrauchschwaden über einem mit Weinranken bewachsenen Durchgang, das Apfelblütengemälde in einer Wandnische, ein mit Plättchen aus Lapislazuli gerahmtes Fenster, das Plätschern eines Springbrunnens, die dunkle Gestalt abseits im Schatten hinter einem Pfeiler …
Ein Schauer des Erkennens jagte durch Kiana hindurch und brachte einen Hauch von Düsternis in diese Welt aus Glanz und Blütenduft. Zunächst nahm Kiana nur ein vages Gefühl der Bedrohlichkeit wahr, dann erkannte sie in jener Gestalt hinter dem Pfeiler den hochgewachsenen jungen Mann, der sie bereits im Bunten Basar über alle Maßen verunsichert hatte. Sein nachtschwarzer Umhang war an einer Stelle zurückgeschlagen. Darunter zeigte sich eine graue Hose aus feinem Tuch, die in schwarzen, glänzenden Stiefeln steckte. Darüber trug der Mann ein Hemd aus demselben Stoff, das ihm bis zur Mitte der Oberschenkel reichte und von einem Gürtel zusammengehalten wurde. Daran hing ein Krummdolch in einer schwarzen Scheide. Das Haar des Mannes war unbedeckt und glänzte schwarzblau wie Rabenschwingen. Und seine Augen weiteten sich mit jedem Meter, den Kiana auf ihn zu raste.
Ihr Puls flatterte wie die Fransen ihres teuflischen Teppichs. Wieso hörte dieses blöde Ding nicht auf „Halt!“, so laut sie es auch kreischte? Schon riss der junge Mann schützend die Arme hoch.
Schnell woanders hinschauen! Da unten, die rosa Hose auf der Wäscheleine!
Kurz vor dem Aufprall auf den düsteren jungen Mann drehte der Teppich ab und hielt auf die Wäscheleine zu. Schon konnte Kiana das weiße Blümchenmuster auf der rosafarbenen Hose erkennen. Und die aufgenähten Perlen. Um nicht in die Wäscheleine zu fliegen, wandte sich Kiana dem Obstgarten dahinter zu, was zur Folge hatte, dass sie zuerst die Wäscheleine mit sich riss und anschließend in die Krone eines Apfelbaumes krachte.
D ie abgebrochenen Äste rächten sich mit Kratzern auf der Haut und Rissen in der neuen Kleidung. Während sich Kiana am Baumstamm festklammerte, glitt der Teppich mit gespielter Unschuld unter ihr zu Boden. Wie auch der Teil der Wäscheleine, der sich nicht im Geäst verfangen hatte.
Unter dem Baum liefen zahlreiche Leute zusammen. Wie auch einige … Wesen, wie zum Beispiel ein Riese, der gänzlich aus so etwas wie gelbem Rauch bestand, und eine mannsgroße Ameise mit drei Köpfen.
„ Ist das wirklich diejenige, die Miro als die Schicksalswenderin angekündigt
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