Goldfalke (German Edition)
hat?“, erhob sich eine skeptische Stimme aus dem Raunen der Umstehenden.
„Ja, das ist sie , alle guten Mächte mögen uns beistehen!“ Fatima schwebte zu Kiana. „Komm endlich von diesem Baum runter, Mädchen! Oder willst du den ganzen Tag da oben bleiben? Ich möchte dich schnell noch der Herrscherin und dem Großwesir vorstellen, wie es die Höflichkeit verlangt, dann muss ich mich erst einmal ausruhen. Schließlich bin ich eine alte Frau und einer solchen Aufregung, wie du eine bist, nicht mehr gewachsen.“
So gesehen fühlte sich Kiana der Aufregung auch nicht besonders gewachsen . Erst recht nicht, als tausend hilfreiche Hände sie vom Baum pflückten und auch danach nicht aufhörten, an ihr zu zupfen, sie zu begrüßen und zu umarmen. So viele Leute stellten sich ihr vor, dass sie die vielen Namen gleich wieder vergaß.
Eine Frau stand in der Mitte des Getümmels , gab Anweisungen bezüglich Kianas Unterbringung und schmierte eine Salbe auf die Kratzer, die das Geäst auf Kianas Armen, Hals und Gesicht hinterlassen hatte. Die Haut der Frau war so dunkel wie schwarzer Tee. Kiana hatte nur einmal so dunkle Menschen gesehen. Bei den Soldaten der Besatzungstruppen ihrer Heimat.
E in grauhaariges Mütterchen mit einem Korb voller Nähgarn flickte die Risse in der Kleidung, die Kiana am Leib trug.
Halt, nein, nicht das Mütterchen nähte! Die Nadel bewegte sich völlig frei in der Luft und führte von alleine den Faden durch die Seide von Kianas Rock. So sicher und mit so kleinen Stichen, dass man die Naht nicht sehen konnte. Und ohne dass Kianas Haut auch nur einmal gestochen wurde. Nachdem die Nadel ihre Arbeit beendet hatte und wieder in dem Nähkörbchen der Grauhaarigen verschwand, waren auch die Kratzer auf Kianas Haut kaum noch sichtbar. Nun wurde sie vorwärts geschoben von all den rege plappernden Bewohnern dieses Paradieses. Der weiße Geier erhob sich in die Lüfte und flatterte über den Köpfen aller, wobei er „Die Schicksalswenderin, die Schicksalswenderin!“ schrie.
Die Schicksalswenderin - Das konnte nur ein schlechter Witz sein. Kiana hätte dem Geier am liebsten seinen kahlen Hals umgedreht für den Hohn, der in seinem Geschwätz steckte. Sie hatte gerade begonnen, durch ihre mögliche Einheirat in die Rustami-Familie etwas Hoffnung für sich selbst zu schöpfen, da konnte sie unmöglich so etwas wie die Schicksalswenderin für diese Leute hier sein.
Mehrere unterschiedlich hohe und unterschiedlich verzierte Zwi ebeltürme umkleideten das kuppelförmige Hauptgebäude, dessen Eingangsportal höher war als ein mehrstöckiges Haus. Funkelnde Edelsteine, deren Namen Kiana nicht kannte, schmückten den geschwungenen Torrahmen. Sie kam gar nicht dazu, um Erlaubnis zum Eintreten zu bitten und einen Gruß auszusprechen, wie es sich gehört hätte, sie wurde einfach von der Menge ins Gebäude hineingeschoben.
Fatima hatte sich ihren Teppich als Rolle unter den Arm geklemmt und ging voran. Kianas Teppich war nirgendwo zu sehen.
Das war vielleicht auch besser so.
Voller Ehrfurcht schaute sich Kiana in der Eingangshalle des Schimmernden Palastes um. Ein großes Mosaik aus unzähligen bunten Steinchen beherrschte den Boden. Es stellte tanzende Menschen dar.
Von allen Seiten mündeten Durchgänge, Türen und Treppen in die Seitennischen der Halle , und über dem Ganzen verjüngte sich Gewölbe um Gewölbe zu einer gewaltigen Kuppel, die in Türkis- und Goldtönen schillerte. Zunächst erschien die Kuppel sehr massiv, doch im nächsten Moment wirkte sie fast durchscheinend, so dass ihre Ornamente als zartes Geflecht förmlich in der Luft hingen. Und wiederum einen Wimpernschlag später sah man dort wieder festes, steinernes Gewölbe.
Ein alter Mann mit einem dünnen weißen Bart und ebensolchen Augenbrauen trat ihnen entgegen. „Friede sei mit dir! Willkommen im Schimmernden Palast.“ Mit beiden Händen ergriff er die Kianas. Vor Verwunderung, dass dieser fremde Herr sie so zuvorkommend behandelte, konnte sie den Gruß nur stammelnd erwidern. Erst recht, als Fatima ihr erklärte: „Das ist Sayed, der Großwesir.“
Der Großwesir umarmte die alte Frau. „Ich sollte mit dir schimpfen, liebste Schwester, dass du dich so selten hier blicken lässt! Dir ist nur verziehen, wenn du mir alles von deiner letzten Reise und von deiner jungen Begleiterin hier erzählst. Übrigens ist der Kaffee im Palast noch besser als bei deinem letzten Besuch. Wir sollten uns einen Schluck genehmigen und in Ruhe
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