Goldfalke (German Edition)
diejenige, welche, wie ich vernahm, gleich einem Wüstensturm den Bunten Basar hat heimgesucht?“
„Genau das ist sie.“ Fatima wedelte ihre faltige Hand. „Nun flieg, mein Freund, und kündige Kiana im Palast an! Wir kommen gleich nach.“
„Nun flieg, mein Freund“, äffte der Geier Fat ima nach. „Kaum dass ich hier angekommen bin und Luft holen konnte, werde ich wieder durch die Wüste geschickt! Dabei ist die trockene Luft dort Gift für meine Stimme.“ Er stieß ein paar Töne aus, die wohl so etwas wie eine Melodie ergeben sollten, aber dennoch nichts anderes waren als Gekrächze.
Die alte Frau zeigte einen Anflug von Lächeln. „Deine Stimme, mein Freund, ist wohlkli ngender denn je. Und jetzt erfülle deine Pflicht!“
Noch immer murrend erhob sich der Geier in die Lüfte. Eine Schwungfeder streifte Kianas Wange. Mit kraftvollen Flügelschlägen verschwand der Vogel. Bald konnte man ihn nur noch als einen kleinen Punkt über der Wüste wahrnehmen.
„Das war Miro, der Ausschreier des Schimmernde n Palastes“, erläuterte Fatima. „Seine Aufgabe ist es, Anordnungen der Herrscherin und des Großwesirs ins Land zu tragen und Neuigkeiten zu verbreiten. Meist kommt er mit mehr Nachrichten zurück, als allen Beteiligten lieb ist, und schmückt seine Berichte reicher aus, als ihnen gut tut.“
Vor Verwunderung vergaß Kiana, sich wegen ihrer schaml osen Aufmachung zu sorgen. „Ich soll ein Schicksal wenden, hast du gesagt? Das Schicksal von wem? Wie?“
Fatima winkte ab. „Das erfäh rst du schon noch. Ich kann mich jetzt nicht aufhalten mit langwierigen Erklärungen. Du wirst mich auf dem Flug zum Palast noch genug Kraft kosten. Je eher wir aufbrechen, desto früher kommen wir zum Ziel, und desto früher bekomme ich meine wohlverdiente Ruhe.“ Als sich ihre knochigen Finger um Kianas Handgelenk legten, hob sich der Pfeilteppich.
Angenehm sachte stiegen sie hoch über die Zeltdächer und blieben kurz in der Luft stehen, um zwei kleinen Jungen auszuweichen, die auf ihren Teppichen um die Wette flogen.
„Richte deine Aufmerksamkeit nur auf mich!“ Fatima ließ die Hand ihres Schützlings los.
Kiana begann zu schwanken. Sie krallte sich an den Teppichrändern fest und zwang ihre Augen, nur auf Fatima zu zielen, nur auf Fatima, nur auf Fatima!!, bis sich ihr Blick förmlich verknotete mit dem Büschel weißer Haare, das unter dem Schal der Alten hervorlugte. Kiana spürte den Fahrtwind, hätte sich gern vergewissert, wohin die Reise ging, doch sie traute sich nicht, ihre Konzentration auch nur einen Pulsschlag lang vom Rücken der Greisin abzuwenden.
Nach einiger Zeit hielten sie an. Mit einem eleganten Schlenker drehte sich Fatimas Teppich, so dass ihr faltiges Antlitz dem des Mädchens gegenüberstand. „Schau dich ruhig um, Töchterchen, halte aber ein Stückchen deiner Aufmerksamkeit auf deinen Teppich gerichtet, um ihn in dieser Höhe und Lage zu halten. Du musst lernen, deine Umgebung wahrzunehmen und trotzdem mit einem Teil deines Geistes den Flug zu steuern.“
Kiana wagte einen vorsichtigen Blick nach unten. Sie schwebte hoch über dem Boden. Schwindlig hoch. Unter ihr Sand und Felsen, wohin das Auge reichte.
Wüste.
Diese erstreckte sich zwischen den winzigen Farbtupfern im Hintergrund, die den Bunten Basar darstellten, und dem Gebirge am Horizont, an dessen Fuß etwas funkelte wie ein Juwel.
Fatimas Augen folgten Kianas. „Das Glitzernde da vorn ist der Schimmernde Palast. Unser Ziel. Halte deinen Willen darauf gerichtet und flieg voran!“
Mit klopfendem Herzen versuchte Kiana, der Anweisung Folge zu leisten. Ruckartig überholte sie die alte Frau. Ihre Finger schmerzten vom Hineinkrallen in die Teppichfasern. Mit einem Aufkreischen sackte sie nach unten, schaffte es dann aber, den Teppich ins Gleichgewicht zu bringen und in einer Entfernung vom Boden weiterzufliegen, die ungefähr der Höhe eines Kamelrückens entsprach. Hoch genug für ihren Geschmack.
Fatima schwebte zu Kiana herab. „Jetzt kannst du das Tempo erhöhen, indem du stärker dem Schimmernden Palast nahekommen willst.“
Erbarmungslos brannte n die Sonnenstrahlen von oben herab und die gespeicherte Hitze des Sandes von unten herauf. Doch erstaunlicherweise hielt der dünne gelbe Schal die Sonne halbwegs davon ab, Kianas Hirn zu verschmoren. Sie richtete ihre volle Aufmerksamkeit auf das, was da vor den Bergen funkelte. Der Teppich beschleunigte so schnell, dass sie überrascht aufkeuchte. Doch sie hielt
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