Goldfalke (German Edition)
ich. Du bist wirklich die Einzige im Basar, die freiwillig die Klare Welt verlassen will. Und das ohne vernünftigen Grund.“
„Aber edle Weitgereiste …“
„Und du weißt genau, dass ich nur dann jemandem den Durchtritt gestatte, wenn es wirklich wichtig ist. Jetzt zieh deiner Wege! Deine Preise kann drüben sowieso keiner zahlen.“
Schmollend blieb die geblümte Frau zurück.
An der Mauer angelangt zog die Seherin zwei blassblaue Bündel unter ihrem Mantel hervor und warf eines Kiana zu.
Als Kiana es auffing, erkannte sie erleichtert, dass es sich um ihre Burka handelte und stellte schuldbewusst fest, dass sie von selbst gar nicht daran gedacht hatte, sie mitzunehmen. Nicht auszudenken, wenn sie unverschleiert in der Stadt ihres früheren Zuhauses aufgetaucht wäre! Selbst der sanftmütige Mustafa hätte sie gescholten.
Mustafa! Der Gedanke an ihn machte Kiana kribbelig. Hastig warf sie sich die Burka über, die noch immer den Riss zeigte, den sie sich am Fenster des Elektrohändlers zugezogen hatte, kurz bevor dieser von Fatima daran gehindert worden war, seine Tochter zu töten. Kiana kam es vor, als ob das schon Jahre her wäre.
Zögerlich nahm Nesrin die zweite Burka entgegen. „Ich muss mich also auch verschleiern? Das hatte ich schon befürchtet, aber ...“
„Zieh das Ding einfach an und gib Ruhe!“, befahl Fatima. „Eigentlich hasse ich diese Stoffgefängnisse, aber drüben ist das die beste Tarnung. Vor allem für ein auffälliges Mädchen wie dich. Gut, dass Amir dabei ist, denn mit einer männlichen Begleitung erregt ihr kein unnötiges Aufsehen. Und wenn du dich nicht ganz daneben benimmst, Nesrin, könnt ihr euch so völlig unauffällig in der Menge bewegen.“
Achselzuckend schickte Nesrin ihr Kätzchen ins Tal der Dschinns und zog die Burka über ihren Kopf. „Hilfe, ich sehe nichts!“ Sie streckte die Arme von sich und drehte sich im Kreis. „Ich fühle mich wie ein Gespenst in einem Kinderfilm aus den Fünfzigern. Huuuuuh!“
Davon angelockt lugten ein paar kleine Jungen hinter einem Zelt hervor und kamen kichernd angerannt. Fatima scheuchte sie wieder weg, stoppte Nesrins Drehungen mit einem festen Griff um deren Schultern - „Lass die Albernheiten!“ - und drehte das Sichtgitter der Burka nach vorn auf Nesrins Gesicht.
„Ich kann noch immer fast nichts sehen“, beschwerte sich Nesrin. „Jetzt weiß ich auch, warum die Frauen dort eine männliche Begleitung brauchen. Als Blindenhund. Warum setzt du eigentlich keines dieser Stoffzelte auf, Fatima?“
„Ich werde nicht mitgehen.“ Die Seherin berührte die Mauer und jeden einzelnen ihrer Begleiter. „Das Tor bringt euch zurück zu dem Zeitpunkt, da ihr die Trübe Welt das letzte Mal verlassen habt und lässt nun auch dich mit durch, Nesrin. Nehmt eure Teppiche lieber mit!“
Sie wandte sich um, stoppte dann jedoch in der Bewegung. „Aber benutzt die Teppiche nur im Notfall! Nur wenn ihr mit Höchstgeschwindigkeit fliegt, kann man euch bestenfalls als Wind wahrnehmen. Da ihr aber jemanden suchen wollt, müsstet ihr zwangsläufig langsamer fliegen, und dann können euch auch ungeschulte Trübe-Welt-Augen auf den Teppichen sehen.“
Sie ging nur einen Schritt weiter, bis sie sich erneut umdrehte. „Also fliegt am besten überhaupt nicht!“
Panik erfasste Kiana. „Aber ich brauche dich da drüben! Bitte geh nicht weg!“
Fatima blieb noch einmal stehen. „Ich bin eine alte Frau und erschöpft. Während ich auf euch warte, setze ich mich in das Teezelt gleich da vorn und ruhe mich aus. Nein, du brauchst mich nicht, Töchterchen. Das hast du in den vergangenen Tagen zur Genüge bewiesen. Dein Wille hat Flügel bekommen und diese im Kampf erfolgreich erprobt. Nutze sie, oder sie werden wieder verkümmern!“ Damit drehte sie sich endgültig um und ging, ihre Teppichrolle unter dem Arm, mit dem hölzernen Schritt des Alters in das bunte Treiben des Basars hinein.
Nesrin hakte sich bei Amir unter. „Komm, Blindenhund, und sei unser Navi!“
Er schob sie von sich und trat beherzt durch Fatimas Tor.
Erleichtert, d ass Nesrin bereit schien, die Burka aufzubehalten, holte Kiana ihren Dschinn in die Glasphiole und folgte ihren beiden Freunden durch die Mauer.
Kaum dass Kiana auf die andere Seite getreten war, stülpte sich die Stadt ihrer Kindheit über sie wie der Ganzkörperschleier, den sie trug.
„Voll krass, hey!“, raunte Nesrin. „ Hier hast du gelebt?“
„Ja, hier habe ich gelebt.“ Und t rotz der
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