Goldfalke (German Edition)
„Du musst nichts allein bewältigen. Wir stellen dir eine unserer besten Zauberinnen zur Seite. Aber jetzt ruh dich aus! Du hast morgen viel vor dir. Ach ja, und an deinen Flugkünsten mit dem Teppich musst du dringend arbeiten. Du hilfst ihr doch dabei, Nesrin?“
Nesrin lächelte unbekümmert. „Klar!“
Kiana wünschte, auch ihr wäre etwas hier „klar“. Irgendetwas. Doch je mehr sie erfuhr, desto mehr Fragen taten sich auf. Mit einem schwirrenden Gedankenschwarm im Kopf nahm sie ihren Dschinn in die Hand, erwiderte die Gutenachtwünsche der anderen und folgte Nesrin in deren Zimmer.
Wie erwartet schlief Kiana in dieser Nacht sehr wenig. Was nicht am Bett lag, denn auf etwas so Bequemem hatte sie noch nie gelegen. Sie fühlte sich wie eine Hochstaplerin, die sich unrechtmäßig Zutritt zum Gemach einer Prinzessin verschafft hatte. Fast erwartete sie, dass die Palastwache kam, um sie zu entfernen, weil Fatima und Sayed herausgefunden hatten, dass sie doch nicht die richtige Geweissagte war.
Alles, was Kiana an diesem Abend erfahren hatte, zerfaserte sich im Halbschlaf zu wirren Alpträumen. Überdies schreckte sie immer wieder hoch, um nachzusehen, ob es ihrem Dschinn noch immer gut ging. Sie hatte ihn in ein hölzernes Kästchen gelegt, das Nesrin ihr gegeben und mit einem seidenen Tuch ausgekleidet hatte. Im spärlichen Licht des Mondes, das durch das Fensterglas drang, konnte Kiana ihren Dschinn nur schemenhaft erkennen. Um ihre Ängste zu beschwichtigen, berührte sie ihn ab und zu mit dem Finger. Und jedes Mal regte er sich. Dann schielte Kiana immer auch hinüber zu Nesrins Dschinn, der sich an den Rücken seiner Herrin gekuschelt hatte. Obwohl Nesrin zuvor versichert hatte, dass ihr Dschinn dem von Kiana nichts tun würde, blieb ein Hauch von Misstrauen bestehen. Denn immerhin war Baski ja so etwas wie eine Katze und Kianas Dschinn so etwas wie ein Küken. Und, was auch immer Nesrin beteuern mochte, so war ein Küken für jede Katze ein gefundenes Fressen.
O der etwa nicht?
Doch die Nacht verstrich, ohne dass etwas passierte, so dass sich Kiana im Morgengrauen ein oberflächliches Einnicken gestattete. Nur einen Moment später wurde sie durch Nesrins Stimme geweckt. „Am besten hier hin!“
Als Kiana ihre bleischweren Augenlider in die Höhe hie vte, erkannte sie verblüfft, dass sie doch länger als einen Moment geschlafen haben musste, denn die Sonne beherrschte bereits den Himmel mit unternehmungslustiger Morgenhelle.
Zwei Ausgaben von Avas Dschinn traten ins Zimmer. Zwischen sich trugen sie eine große Truhe aus geflochtenem Bast. Auf Nesrins Weisung hin stellten sie ihre Last in die Ecke vor Kianas Bett. Während sich die Dschinns lautlos entfernten, öffnete Nesrin den Deckel, wühlte in der Truhe und zog etwas Seidiges in Hellorange heraus. „Oh, cool, hey! Das wird dir gut stehen. Aber für den heutigen Ausflug brauchen wir was Praktischeres.“ Der seidige Stoff verschwand wieder in der Truhe. Dafür zog Nesrin Kleidungsstücke in hellbraun und beige heraus und warf sie auf Kianas Bett. „Das hier geht.“
Kiana setzte sich auf und befingerte die Gard erobe. „Das ist für mich?“
„Klar.“ Nesrin warf noch ein paar beigefarbene Socken und feinste Unterwäsche aus spitzenbesetzter Baumwolle dazu. „Die Lieferung kam vorhin an. Nadschib vom Bunten Basar hat sie dir geschickt. Wie Miro mir steckte, hat Fatima Nadschib bei eurer Shoppingtour dort eine Wahrheitsfeder gegeben. Dafür müsste er viel mehr als einen Teppich und ein paar Klamotten rausrücken, wenn du mich fragst.“ Nesrin fischte ein weiteres Gewand aus der Truhe. „Oh, dieses Türkis ist wie für mich geschaffen. Darf ich es mir mal ausleihen?“
„Ja, natürlich, ich …“
„Das Smaragdgrüne ist eher was für dich.“ Ausnahmslos alles, was Nesrin aus der Truhe holte, war einer Königin würdig.
Was Kiana dabei am meisten verstörte, war: „All das hat Fatima erhalten für diese eine Feder?“
„ Für eine Wahrheitsfeder!“, betonte Nesrin. „Dafür muss Nadschib dir bestimmt ein Leben lang Kleidung liefern.“
„Was ist an dieser Feder so wer tvoll?“
„ Sie stammt von der Wahrheitsschwalbe und verfärbt sich rot, wenn einer lügt. Für einen Händler wie Nadschib ist es beim Feilschen Gold wert zu erfahren, welche seiner Geschäftsfreunde und Lieferanten ihn verarschen und welche die Wahrheit sagen. Daher ist jeder im Bunten Basar und in der Karawanserei scharf auf diese Federn.“ Sie
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