Goldfalke (German Edition)
öffnete die Tür zum angrenzenden Badezimmer. „Wenn du die Dusche ein bisschen laufen lässt, kommt warmes Wasser.“
Nachdem ein wenig später Nesrin im Bad fertig war, genoss Kiana mit großem Vergnügen den Luxus, ausgiebig zu duschen und all die duftenden Seifen, Balsame und Lotionen auszuprobieren, die dort in goldenen muschelförmigen Ablagen nur darauf warteten, ihren herrlichen Duft entfalten zu können. Dann zog sie die Kleidung an, die Nesrin für sie ausgesucht hatte: Socken, Spitzenunterwäsche, eine Baumwollbluse, eine Leinenhose, eine Leinenweste und glänzende Lederstiefel. Kiana kam sich vor wie ein Abenteurer vor einer aufregenden Reise.
Al s sie zurück ins Schlafzimmer kam, suchte sie ihren Dschinn. Er hockte in dem Holzkästchen und blickte - ja, blickte - sie an. Die Augen waren nicht mehr weißlich trübe, sondern klar und wach und braun mit weit geöffneten Pupillen. Und der Dschinn war wieder ein bisschen gewachsen. Oder erschien das nur so im gleißenden Tageslicht? Es war auffallend hell im Zimmer.
N icht nur das Fenster, sondern auch die Wände des Zimmers ließen jetzt Licht durch. So wie sehr dickes Glas. Gestern war das noch nicht so gewesen. Da hatte die Außenwand des Palastes noch aus Marmor bestanden. Mit der typischen Steinmaserung, die Marmor eben auszeichnete. Kiana erinnerte sich genau. Die Marmorierung zeigte sich auch jetzt, allerdings als golden glänzende Äderung in dem ... ja, in was? Glas?
Das Wandbild über Kianas Bett, das ein echsenähnliches W esen auf einem Ast zeigte, wirkte jetzt wie eine Glasmalerei. Fast konnte man den Raum dahinter einsehen. Kiana sah eine schemenhafte Gestalt, die sich dort bewegte, konnte allerdings nur vage erkennen, dass es sich um einem Menschen handelte. Oder um einen Dschinn mit annähernd menschlicher Gestalt. Ein Glück, dass vorhin beim Duschen und Ankleiden die Wand im Bad noch völlig blickdicht gewesen war!
„Komm frühstücken!“ Gänzlich unbeeindruckt von der veränderten Lichtdurchlässigkeit der Palastwände stand Nesrin an der Tür und wippte ungeduldig mit dem Fuß. Sie war fast genauso gekleidet wie Kiana, nur in Grüntönen. „Deinen Dschinn kannst du hier lassen. Er würde dich nur behindern, und das kannst du heute nicht gebrauchen.“
Kiana zögerte. „Wo ist eigentlich Baski?“
Nesrin zuckte die Achseln. „Wenn du deinen Dschinn längere Zeit lang nicht beachtest, verschwindet er und döst im Tal der Dschinns vor sich hin, bis du ihn wieder brauchst.“
Unvermittelt überkam Kiana die Erinnerung an jene Trostlosigkeit, die sie im Tal der Dschinns auf der endlosen grauen Ebene befallen hatte. „Nein, zurück in diese muffigen Felsspalten schicke ich meinen Dschinn nicht!“
„ Bleib locker, Ki! Für die Felsspalten ist er doch schon zu groß. Da würde er gar nicht mehr reinpassen.“
„Wo käme er denn dann hin?“
„Keine Ahnung. Zu anderen Baby-Dschinns wahrscheinlich. Keine Angst, es geht ihm gut da, und du kriegst ihn heil wieder.“
„ Bist du sicher?“
Nesrin rollte die Augen. „Ja, ve rsprochen. Jetzt komm schon!“
Mit einem letzten Blick auf das Küken in dem Holzkästchen verließ Kiana mit ihrer neuen - eigentlich einzigen - Freundin den Raum und begab sich auf den Weg ins Erdgeschoss. Sie nahmen nicht den Hauptgang, sondern stiegen weiter hinten eine schmale Wendeltreppe nach unten. Hier konnte man durch die jetzt gläsernen Wände hindurch verschwommen den Himmel und das Grün der Palastgärten erkennen. Der Weg führte weiter in eine große Küche, wo Ava lautstarke, aber gut gelaunte Anweisungen an drei Köchinnen erteilte.
Im Handumdrehen wurden Nesrin und Kiana mit Guten-Morgen-Grüßen, Milch, Brot und Spiegeleiern versorgt. Eine der momentan vier Kopien von Avas Dschinn, die hier geschäftig umher eilten, trug ihnen alles auf einem Tablett nach draußen auf eine geräumige Terrasse, auf der viele Sitzpolster und Kissen dalagen wie von Riesenhand dahin gestreut. Zwischen regem Kommen und Gehen saßen etliche Leute zusammen, aßen, tranken, unterhielten sich und erwiderten freundlich Nesrins fröhliche und Kianas schüchterne Grüße.
Die beiden Mädchen s etzten sich auf zwei freie Kissen am Rand der Terrasse und machten sich über ihr Frühstück her. Die Frau in lila Pluderhose und weißer Bluse neben ihnen hatte einen Schmetterling auf der Schulter, der so groß war wie ein Huhn. Ein Dschinn, so vermutete Kiana mit neuem Kennerblick und sah sich weiter um. Möglichst
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