Goldfalke (German Edition)
krächzte der Geier und schüttel te sein Gefieder. „So etwas gibt es nicht.“
„Und wenn doch?“, warf die Seherin zurück.
„Was ist denn der Lähmende Schleier?“, fragte Ne srin.
„Nur ein Mythos“, wiederholte Miro.
Avas Augenbrauen zogen sich zusammen. „Der Lähmende Schleier ist der Sage nach ein magisches, schwarzes Tuch, welches das Bewusstsein eines Menschen betäubt und unter die absolute Befehlsgewalt desjenigen stellt, der den Schleier über das Opfer geworfen hat. Das Opfer ist sodann unfähig, eigene Gedanken zu entwickeln, und wird einzig durch die Gedanken des Täters gesteuert. Doch niemand von uns hat einen derartigen Schleier jemals zu Gesicht bekommen.“
Der Geier schlug mit den Flügeln. „Nur ein Mythos!“
„Auch in einem Mythos“, meinte Fatima, „steckt häufig ein Stück Wahrheit wie ein Kern in einer Dattel. Auf jeden Fall wäre das eine mögliche Erklärung für das Schweigen Elinas.“
Hoffnung und Verzweiflung krachten in Kiana gegeneinander wie die Köpfe zweier k ämpfender Schafböcke. Wenn all diese Leute hier mit ihren unglaublichen Zauberkräften ihre Mutter nicht finden konnten, wie sollte es dann ihr gelingen? Falls ihre Mutter noch lebte.
Falls !
Nun, da sie die meisten der Tabletts abgeräumt hatten, verschmolzen die Dschinns der Haushofmeisterin wieder miteinander, bis nur noch zwei von ihnen übrig blieben. Einer servierte Getränke, und der zweite reichte Fatima eine Schale mit dampfendem Reisbrei, bis auch er sich mit seinem Ebenbild verband und fortan als Einzelwesen darauf wartete, ein Glas, eine Tasse oder einen Becher aufzufüllen.
„Wen n Elina noch lebt“, rief eine Frau in einem zitronengelben Kleid, „ist sie in der Gewalt des Löwen-Sultans, da sind wir uns doch alle einig. Und was soll denn ein unerfahrenes Mädchen wie Elinas Tochter gegen Damon ausrichten?“
„Kiana, die Schicksalswenderin“, krächzte der Geier. „Die, deren magische Kräfte so groß sind, dass ihr Zorn den Bunten Basar verwüstete. Die, von der Fatima geweissagt hat, dass sie den Sieg über das Schicksal herbeiführen kann. Die, deren Flugkünste so miserabel sind, dass sie nicht in der Lage ist, einem Apfelbaum auszuweichen. Die, der Soraya auftrug …“
„ Treffend gesprochen, Miro!“, unterbrach ihn die Haushofmeisterin. „Kiana ist die Geweissagte. Und Fatimas Weissagungen sind noch immer eingetreten.“
„Was genau hast du eigentlich geweissagt, Seherin?“, fragte eine Frau mit glitzerndem Kopfputz, der sich plötzlich bewegte und seine Silberfäden durch ihr ebenholzfarbenes Haar schlängelte.
Ohne Eile verspeiste Fatima einen Löffel Brei. „Ich habe gesehen, dass ein großes Unheil droht, das nur Elinas Tochter abwenden kann.“
„Welches Unheil?“, musste Kiana fragen. Der kleine Dschinn auf ihrem Knie hob das Körperende an, das am meisten an einen Kopf erinnerte. Lauschte er etwa?
„ Ohne Elinas Hilfe drohen die Kräfte der Herrscherin zu versiegen“, antwortete die Frau in Zitronengelb, „was die Gärten des Schimmernden Palastes verdorren und wieder zu der Wüste werden ließe, der sie einst entrissen wurden. Das ist das größte Unheil, das uns bedroht. Deshalb musst du deine Mutter finden, kleine Schwester.“
Kleine Schwester - Während es Kianas Herz erwärmte, dass sie in dieser erlauchten Gemeinschaft, ja dass sie überhaupt von jemandem mit dieser liebevollen familiären Anrede angesprochen wurde, rief weiter hinten ein Mann in einem purpurroten Anzug: „Ich glaube eher, dass mit dem Unheil der nächste Krieg gegen den Löwen-Sultan gemeint ist. Der letzte hätte uns schon fast ausgelöscht.“
Miro wiegte seinen Kopf zwischen der zitronengelben Frau und dem purpurroten Mann hin und her. „Vermutlich habt ihr beide Recht.“
Erst jetzt erreichte die Ungeheuerlichkeit all dieser Aussagen Ki anas Verstand und drückte sich ungefragt in ihre Worte hinein: „Ich soll also meine seit eineinhalb Jahrzehnten verschollene Mutter finden, dabei gegen einen mächtigen Zauberer antreten und gleichzeitig noch einen Krieg verhindern?“ Dieser aufsässige Tonfall klang bei Kiana immer an, wenn Hilflosigkeit auf Hirnrissigkeit traf, und trieb Tante Shabnam jedes Mal zuverlässig zu einem Wutanfall. Hier und jetzt jedoch schien niemand Anstoß zu nehmen.
„ Durchaus“, meinte der Geier, „könnte man es in diese plumpen Worte fassen.“
Was Kiana zu ihrer ursprünglichen Frage brac hte, in der ein immer größer werdendes Maß
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