Goldfalke (German Edition)
schief. „Nun, sie heißen so, weil sie sehr weise sind und weil sie stehen.“
„ Sie stehen?“
„Genau genommen alle bis auf einen. Der L ustigste von ihnen liegt auf dem Boden, aber alle anderen stehen in der Gegend herum. Das hat mit einem Fluch zu tun oder so was in der Art. Keiner weiß, wie das zustande gekommen ist. Diese Typen sind alt. Uralt. Sie waren schon da, bevor der erste Palast hier erbaut wurde. Seit zweitausend, dreitausend Jahren, keine Ahnung. Offenbar sind sie unsterblich. Befreien können sie sich auch nicht, weil keiner weiß, wie das geht. Und ihre Dschinns können dabei auch nicht helfen, denn die stehen alle im Tal der Dschinns als Steinstatuen herum.“
Nicht, dass Kiana alles von dem glaubte, was sich ihre Freu ndin da zusammenspann, aber: „Wie sollten die uns helfen können?“
„Da sie antik sind, haben sie schon vieles gehört. Sie haben ja nichts zu tun den ganzen Tag und sind dankbar für jede Abwechslung. Nachrichten, Gedichte, wissenschaftliche Abhandlungen oder auch nur Klatsch und Tratsch - vor lauter Langeweile saugen sie alles auf wie ein Schwamm. Daher haben sie so ziemlich bei allem, was man wissen will, voll die Ahnung. Besonders bei dem rätselhaften Zeug, das Sahmaran da abgetextet hat, sind sie sicher eine gute Hilfe, denn einer von ihnen kannte die Schlangenlady näher, glaube ich.“
„ Und woher weißt du, dass sie uns helfen wollen?“
Nesrin runzelte die Stirn. Diese Möglichkeit hatte sie wohl noch nicht in Betracht gezogen. „Das werden sie schon.“
Welche gigantischen Ausmaße das Anwesen des Schimmernden Palastes hatte, zeigte sich Kiana erst jetzt. Wie sie nun erkannte, versteckten sich hinter dem Hauptgebäude ausgedehnte Stallungen, Koppeln, Blumenwiesen und Äcker, die sich alle noch innerhalb der Außenmauer befanden. Pferde, Schafe, Ziegen und Kamele grasten auf saftigen Weiden, Hühner scharrten gackernd auf einem Misthaufen und Kühe ruhten in schattigen Unterständen.
Auf einem frisch geharkten Feld stakste eine Art Baum he rum. Er bewegte sich auf seinen Wurzeln vorwärts, die in spitze Enden ausliefen. Damit stach er Löcher in die Erde. Eine Frau folgte ihm und pflanzte Salatsetzlinge in die Löcher.
Nesrin führte Kiana an der Hinterfront des Palastes vorbei zu einer Anpflanzung von Zitronen- und Granatapfelbäumen und weiter zu einem Hain aus knorrigen Eichen und Tamarisken. Zwischen dem Laub sah man im Hintergrund die Außenmauer durchscheinen. Auf dem Gras unterhalb der Bäume lagen etliche hüfthohe Felsbrocken. Als hätte ein Riese sie dahingestreut. Und aus diesen Felsbrocken ragten … Leute? Diese drehten ihre Köpfe den Mädchen zu, also waren sie keine Statuen, doch ihr Oberkörper ging direkt in den Fels über.
I rgendwie.
Unwillkürlich hatte sich Kiana die Stehenden Weisen vorgestellt als alte Männer in einem Raum voller Bücher und Stehtische, an denen sie lehnten und bei einer Tasse Tee kluge Ideen austauschten. Nie im Leben hätte sie erwartet, dass es sich um Menschen unterschiedlichen Alters, unterschiedlichen Geschlechts, unterschiedlicher Hautfarbe und der Kleidung nach sehr unterschiedlicher Herkunft handelte. Und dass der Oberkörper jedes einzelnen ganz normal erschien, der Unterkörper jedoch in je einem Felsen steckte - nein, nicht steckte, sondern eher mit dem Felsen verschmolzen war. Der goldverzierte Umhang dieses schwarzen Mannes da rechts ging nahtlos über in die Struktur und die graue Farbe des Gesteins, genauso wie das Gewand eines dicken Herrn und der vollständig mit Federn besetzte Überwurf einer jungen Frau. Sie trug ihn nur über einer Schulter, so dass es aussah, als hätte sie einen Flügel. Kiana zählte zwölf, nein, dreizehn dieser Gestalten, wovon eine gar kein Mensch war, sondern eher ein Fisch und von der Brust abwärts - soweit sichtbar - eine … Ziege?
Oh halt , es waren vierzehn, denn hinter den anderen versteckte sich noch jemand. Als einziger von ihnen stand er nicht aufrecht, sondern lag auf der Seite, weshalb Kiana ihn nicht gleich bemerkt hatte. Sein oberes Bein war angewinkelt und frei, während sein unteres Bein mitsamt dem Unterleib im Stein gefangen war.
Auch angesichts dieser seltsamen Gestalten verhielt sich Nesrin flapsig wie immer. „Hallo Leute!“ Einem haute sie im Vorbeigehen sogar vertraulich auf die Schulter. „Na, Hatim, ist deine Ode an den Schatten des Morgentaus schon fertig?“
Der Angesprochene wirkte entrüstet. „Du beliebst zu scherzen,
Weitere Kostenlose Bücher