Goldfalke (German Edition)
„Und außerdem nur noch eine Tochter.“ Dass sie zudem Kiana, das Kind der Schande ihrer Schwester, gänzlich verschwiegen hatte, war selbstverständlich gewesen.
„Es bringt nichts, Kiana so zu bedrängen“, fand Sine, die Frau mit dem Federumhang. „Ein junges Mädchen ohne Schulbildung hat kaum eine Wahl, nicht wahr, Kiana?“
D ie unerwartete Hilfe ließ Kiana hoffen, nicht völlig das Gesicht zu verlieren. „Mein Onkel würde mich totschlagen, wenn ich ohne Burka auf die Straße ginge. Genau genommen war er schon einmal nahe dran, genau das zu tun.“
„Wie das?“, wollte der dicke Herr wissen. Als Kiana z ögerte, wurde seine Stimme fordernd: „Komm schon, Kleine! Du willst schließlich noch eine Antwort von uns, und deine Hochzeitsgeschichte war bisher mehr als dürftig. Wann wollte dein Onkel dich totschlagen?“
Widerwillig gab Kiana nach: „Es war damals, nach dem Brand. Onkel Abdullah und Tante Shabnam waren außer Haus. Meine Cousine Madina und ich mussten daheim bleiben. Tante Shabnam hatte mir befohlen, in der Scheune hinter dem Haus frisch gegerbte Schafhäute zu reinigen, und Madina musste in der Küche Schaffett auslassen. Madina ließ, so behauptete sie später, das brutzelnde Fett nur einen Augenblick allein. Auf jeden Fall fing es irgendwie Feuer. Und das Feuer sprang auf die Möbel über. Als ich den Rauch roch, rannte ich ins Haus. Madina lag auf dem Boden. Durch den vielen Rauch hatte sie das Bewusstsein verloren. Ich hielt die Luft an und zog Madina zur Tür und weiter ins Freie. Dann holte ich zwei Eimer aus dem Schuppen, füllte sie mit Wasser und rannte zurück in die Küche, um den Brand zu löschen. Es war so unglaublich heiß. Und alles war voller Qualm.“ Nie würde sie den Geruch vergessen nach Rauch und heißem Fett und Zerstörung. Noch jetzt glaubte sie, das Kratzen in ihrer Kehle spüren zu können.
„Amir, der Sohn unseres Nachbarn, sprang plötzlich in die Küche und zerrte mich nach draußen. Sein Vater und weitere Nachbarn kamen ebenfalls herbei, und gemeinsam schütteten wir einen Eimer Wasser nach dem anderen in die Küche hinein, bis das Feuer erlosch. Madina war inzwischen auch wieder bei Bewusstsein. Dann kamen Onkel Abdullah und Tante Shabnam heim.“
„Und weshalb wollte dein Onkel dich schlagen?“, fra gte der Krieger Kemal. „Nachdem du seine Tochter gerettet und geholfen hast, das Feuer zu löschen? Oder hat er dir etwa die Schuld an dem Brand gegeben?“
„Nein. Er meinte, ich hätte Schande über die Familie g ebracht, weil ich es versäumt hatte, Madina und mir eine Burka oder wenigstens einen Schal überzuwerfen, bevor ich sie aus dem Haus zog. So konnten alle Männer der Nachbarschaft uns ohne Kopfbedeckung sehen. Als wären wir Huren, die sich jedem anbieten wollten. Damit hatte ich unsere und vor allem seine Ehre befleckt.“
„So ein Schwachsinn!“, knurrte Kemal. „Wenn du Zeit vergeudet hättest, um in einem bre nnenden Haus nach Kleidungsstücken zu suchen, wärst du vermutlich mitsamt deiner Cousine umgekommen.“
„Mein Onkel meinte, der Tod wäre besser gewesen als die se Schande.“
„Seht ihr ?“, rief Tahiramis. „Genau das meinte ich!“
Entschieden erhob Sine ihre Stimme: „Die einzige Lösung, um wirklich etwas in den Köpfen der Menschen zu ändern, ist Schulbildung.“
„Langfristig ja.“ Tahiramis hob einen Finger, was bei ihr recht bedrohlich wirkte. „Aber auch hier und jetzt, gebildet oder ungebildet, hat jede Frau die Wahl, ihre Tochter zu einem starken Menschen mit Selbstachtung oder zu einer verschüchterten Dienstmagd zu erziehen. Und jede Frau hat die Wahl, ihren Sohn zu einem Mann zu erziehen, der Frauen respektiert, oder zu einem verhätschelten Prinzchen. Und jede Frau hat die Wahl, sich über eine Tochter genauso zu freuen wie über einen Sohn. Und jede Frau hat die Wahl, für ihre Rechte zu kämpfen. Die Frauen im Westen schafften das ja auch. Zuerst muss die Frau sich ändern und kämpfen, dann kann auch der Mann sich ändern. Aber manche Weiber, so habe ich den Eindruck, lassen sich ganz gern unterdrücken. Denn Opfer zu sein ist viel einfacher, als selbst Verantwortung zu übernehmen. Solche, die zu faul sind für Selbstachtung, kannte ich sogar schon zu meiner Zeit.“
„Jetzt bist du aber zu hart zu deinen Ges chlechtsgenossinnen, Schwester“, fand Basidamesch.
„ Auch ich hatte nur die Wahl, mich zu fügen oder zu sterben“, meldete sich der ärmlich gekleidete Schwarze zu Wort.
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