Goldfalke (German Edition)
zu glücklichen Orten fliegen!“ Sein Arm schwenkte in einer ausschweifenden Geste herum.
„ Als Gegenleistung für die Wahrheitsfeder dürften auch ein paar Kleider und Schuhe für die junge Dame herausspringen“, meinte die alte Frau, „findest du nicht auch, mein Freund?“
Der Händler war von der Feder offenbar so angetan, dass er selbst das Feilschen vergaß . „Gewiss, oh du Nobelste aller Großzügigen! Ich eile sofort zum Zelt meiner Schwester und bringe etwas Geeignetes.“ Er verneigte sich so tief, dass man seinen leuchtend blauen Turban von oben sehen konnte. Flink steckte er die Feder unter sein Hemd und verschwand in der Gasse zwischen den Verkaufsständen.
„Worauf wartest du , Töchterchen?“ Die alte Frau betrachtete eine gewebte Jagdszene, die auf dem Boden ausgelegt war.
Um Zeit zu gewinnen , tat Kiana so, als würde sie die Teppiche betrachten, die auf der rechten Zeltwand aufgespannt waren. Wie gewann man Zeit in einem Traum? Zeit wofür eigentlich? Genau genommen brauchte Kiana ja gar nichts zu tun, sagte sie sich. Irgendwann wachte man aus jedem Traum auf, so verrückt der auch sein mochte. Beunruhigend jedoch war, dass sich alles hier merkwürdig echt anfühlte, die fest geknüpften Teppichfasern unter Kianas Fingern, die Weichheit der ausgelegten Kunststücke unter ihren Füßen, der Geruch von frisch gebackenem Brot, der von draußen hereinwehte, all das wirkte so … richtig. So heimtückisch echt, dass man fast glauben konnte, das hier würde wirklich passieren.
Aber dann erinnerte sich Kiana an den Mann mit dem Voge lkörper, die musizierende Spinne, und - oh ja, nicht zu vergessen die Mauer, durch die Kiana und die Alte geglitten waren. Das alles und auch dieser Teppich mitten in dem Stapel rechts neben Kiana brachte sie wieder zur Vernunft.
Fast anmutig schlängelte sich d ieser Teppich zwischen den anderen gewebten Stücken hervor und schwebte auf Kiana zu. Eng geknüpft in warmen Braun- und cremigen Beigetönen und durchwirkt von Goldfäden umrahmten seine geschwungenen Ornamente ein Muster, das bei genauem Hinsehen einen Pfeil darstellte. Ein edles Kunstwerk, eines Königs würdig. Vor Kiana blieb es in der Luft stehen. Ehrfürchtig strichen ihre Fingerspitzen über das seidige Stück.
„Eine gute Wahl“, bemerkte die alte Frau.
Doch auf keinen Fall wollte Kiana irgendeine Verpflichtung eingehen, die mit einem solchen Geschenk sicher verbunden war. „Ich habe nichts gewählt.“
Die Alte lächelte. „ Aber der Teppich schon.“
Kiana sah sich noch weitere Stücke an, doch der Teppich mit dem Pfeilmuster folgte ihr und blieb eine Armlänge neben ihr in der Luft stehen.
„Du hast mich noch gar nicht gefragt, wer ich bin“, erwähnte die alte Frau beiläufig , „und mit welcher Absicht ich dich hergebracht habe.“
„ Haben Traumgestalten Namen?“, wunderte sich Kiana. „Oder Absichten?“
Das Mütterchen hob die weißen Augenbrauen. „Du hältst das hier für einen Traum?“
„Ist es das nicht?“
Die Alte legte den Kopf schief. „Möglicherweise wirst du dir bald wünschen, es wäre einer.“ Sie rollte ihren eigenen Teppich aus, ein Kunstwerk aus Rot und Schwarz, das nun in Kniehöhe in der Luft schwebte, und setzte sich darauf, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Auch mit ihrem Gewicht behielt der Teppich seine Höhe bei.
Der Händler kehrte zurück und legte etwas Seidiges, Gelbgrünes, Glänzendes auf dem linken Teppichstapel ab. Dazu ein Paar Schuhe in derselben Farbe. „Möchtest du es gleich anziehen, junge Dame?“
„Natürlich möchte sie “, antwortete die alte Frau. „Könntest du uns wohl eine Erfrischung holen, Nadschib?“
„Stets zu Diensten, oh du Weiseste aller Weitgereisten!“ Im ehrerbietigen Rückwärtsgang verließ er das Zelt.
„Na los, Töchterchen!“ Ungeduldig wedelte die alte Frau mit ihrer Hand. „Zieh es an! Auf Nadschibs Geschmack kann man sich blind verlassen. Wenn auch auf sonst nicht viel.“
Zögernd berührte Kiana das edle Gewebe, das der Händler gebracht hatte. Es war ein langer, grüner Rock aus Seide mit Goldstickereien am Saum. Und das dazugehörige Oberteil. Selbst die seidenbespannten Schuhe und der gelbe, unanständig durchsichtige Schal passten wunderbar dazu.
„ Jetzt mach schon!“ Die alte Frau gähnte. „Vor mir brauchst du dich nicht zu zieren.“
In einem Traum schon gar nicht , beschloss Kiana. Rasch entledigte sie sich ihrer Burka und des einfachen Kleides,
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