Goldfalke (German Edition)
man eine gute Sicht auf die Stadt, die wie immer nach fortschrittlichen Abgasen und altmodischem Elend roch.
Kiana hatte die a lte Frau noch nie zuvor gesehen. Ihre Kleidung wies nicht einen einzigen Flicken auf und bestand aus einem grauen, mantelähnlichen Gewand über einem weißen Unterkleid. Die Fremde trug keinen Schleier. Noch nicht mal ein Kopftuch. Wirr umrahmten ihre weißen Haare ein von tiefen Falten durchfurchtes Gesicht. Den aufgerollten Gebetsteppich, den sie unter ihrem Arm getragen hatte, lehnte sie neben sich gegen die Mauer. „Kannst du mir etwas von deinem Wasser abgeben, Töchterchen?“ Ihre Stimme war genauso gebrechlich wie ihre Gestalt. „Meine alten Arme pumpen nicht mehr so gut wie die deinen.“ Sie beugte sich vor und machte Anstalten, ihre zitternden Hände in den nächsten von Kianas Eimern zu tauchen.
„Nicht doch , Mütterchen!“, sagte Kiana. „Ich hole schnell einen Becher, damit trinkt es sich leichter.“
„Danke.“ Das Lächeln der alten Frau knitterte noch mehr Runzeln in ihr Gesicht. „Das wäre sehr freun dlich von dir.“
Kiana griff mit jeder Hand zwei Eimerhenkel und eilte zurück in die Küche. Tante Shabnam kam gerade von der Wohnzimmerseite herein. „Wo bleibt der Tee?“ Ihr Tonfall verriet kaum gebändigte Ungeduld.
„Eine fremde alte Frau sitzt da draußen“, erwiderte Kiana. „Sie bat mich …“
„Soll sie woanders betteln !“, zischte die Tante. „Du hast hier Wichtigeres zu tun, als dich mit einer Fremden abzugeben. Sieh zu, dass du den Tee fertig kriegst! Und richte die Datteln auf einer Platte an!“ Nach einem entnervten Aufseufzen kehrte sie zu den Gästen zurück.
Also hatte man i m Wohnzimmer den Zwischenfall mit Amir nicht mitbekommen, denn sonst hätte Tante Shabnam Kiana sofort deswegen beschimpft. Kiana setzte rasch Teewasser auf, griff sich das nächste saubere Trinkgefäß - eine Tasse - tauchte sie in einen der Eimer und brachte sie nach draußen.
Madina folgte ihr. „Bist du verrückt? Hast du Mutter nicht zugehört?“
„Ich habe der alten Frau Wasser versprochen. Und soll man Bedürftigen gegenüber nicht mildt ätig sein?“
„Aber doch nicht heute!“ Schnell kehrte Madina in die Küche zurück, um bloß nicht mit Kianas Ungehorsam in Verbindung gebracht zu werden.
Verunsichert ging Kiana weiter. Wenn die Tante diese Befehlsverweigerung bemerken würde, dann wäre Ärger unausweichlich. Großer Ärger. Natürlich erst nach der Abreise der Gäste, aber dafür umso heftiger. Denn jede Aufsässigkeit wurde von Tante Shabnam immer gnadenlos bestraft.
U nd doch würde Kiana ihr Wort nicht brechen, das sie der alten Frau gegeben hatte. Nicht einmal heute. Wenn sie sich beeilte, würde niemand etwas von ihrem Ungehorsam mitbekommen.
Hoffentlich.
Sie drehte sich so, dass man vom Wohnzimmer aus nicht ihre nackten Finger sehen konnte, als sie der alten Frau die Tasse reichte. „Bitte sehr, Mütterchen.“
„Vielen Dank, liebes Kind!“ Schnell trank die Alte die Tasse aus, stellte sie neben sich auf den Mauervorsprung und erhob sich. „Darf ich dich um noch einen Gefallen bitten, Töchterchen? Mein Teppich wird meinen alten Armen zu schwer. Würdest du ihn mir kurz tragen helfen? Nur bis zu dieser Wand dort, siehst du?“ Ihr knochiger Zeigefinger wies den Hang hinab.
„Ich darf nicht ohne männliche Begle itung …“
Die Alte unterbrach sie: „Für deine jungen Beine sind es nur wenige Schritte. Vielen, vielen Dank! Damit hilfst du einer alten Frau sehr.“ Zielstrebig machte sie sich auf den Weg.
„Hal t, der Gebetsteppich!“ rief Kiana ihr hinterher, doch die alte Frau reagierte in keinster Weise, sondern ging einfach weiter in der offensichtlichen Erwartung, das Mädchen würde ihr den Teppich hinterher tragen.
Kiana schnappte sich den Teppich und folgte der Greisin, die forsch ausschritt. Überraschend forsch. Kiana musste ihre Kleidung raffen und das Tempo steigern, um hinterher zu kommen. Den Hang hinunter. Ein Eselskarren versperrte ihr den Weg. Als sie den Karren umrundet hatte, verschwand die alte Frau bereits hinter einem verrosteten Kleinbus, der am Straßenrand parkte.
So weit hatte sich Kiana noch nie ohne Begleitung ihres Cousins oder ihres O nkels vom Haus weg gewagt. Bald würde in der Küche das Teewasser kochen. Selbst wenn Madina den Tee zeitnah aufgoss, würde Tante Shabnam Kianas Verschwinden bemerken, wenn diese nicht sofort umkehrte.
Kurz erwog sie, den Teppich einfach am Straßenrand
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