Goldfalke (German Edition)
das sie darunter trug, und schlüpfte in die bereitliegenden Kostbarkeiten. Die Seide fühlte sich herrlich an auf der Haut, viel zu teuer für ein Mädchen wie sie. Sogar die Schuhe passten wie angegossen. „Woher wusste der Händler, welche Größe ich habe?“
„ Nadschib kann durch Stoff durchsehen“, gab das Mütterchen zur Antwort. „Das ist seine besondere Gabe.“
„Soll das heißen, er kann mich durch die Kleidung nackt s ehen?“ Kiana errötete. Selbst in einem Traum war diese Vorstellung unerträglich peinlich. Und gleich würde dieser Nadschib zurückkommen! Obwohl in dem Fall unnütz, griff sie nach ihrer Burka.
Die Alte deutete mit dem Zeigefinger auf sie. „Bei den bleichen Nasenhaaren des Weißen Dämons! Du wirst doch nicht wieder dieses hässliche Ding überziehen! Du wirst mich noch blamieren.“
Doch Kiana ließ sich nicht beirren. „Nur Huren zeigen sich in der Öffentlichkeit unverschle iert, um Männer zu verführen.“
„Ich bin auch unverschleiert“, erwiderte die Greisin. „Und du glaubst, dass ich dadurch Mä nner verführen will?“
Kiana schaute in das faltige, lebenskluge Gesicht. Nein, sie glaubte nicht, dass durch diesen Anblick ein Mann in Versuchung geriet. Dennoch schlüpfte Kiana in ihre Burka und rückte sie zurecht. „Vielen Dank für das schöne Gewand und den Teppich!“
Seufzend wischte sich die Alte mit dem Handr ücken über die Stirn. „Was habe ich mir da bloß aufgehalst? Du bist genauso stur wie deine Mutter.“
Kiana erstarrte. „Du kanntest me ine Mutter?“
„Ja, allerdings.“
„Aber wie kann …“ Kiana unterbrach sich, als Nadschib hereinkam. Während sie vor seinem Sehvermögen Schutz hinter einem Teppichstapel suchte, der sie wenigstens bis zu den Schultern schützte, nahm die alte Frau mit einem gemurmelten Dank einen der beiden Keramikbecher entgegen, die Nadschib mitgebracht hatte. Den anderen reichte er über den Teppichstapel hinweg an Kiana, woraufhin sie sich vielmals bedankte. Der Becher war mit einer orangefarbenen Flüssigkeit gefüllt und mit einer leuchtend blauen Blüte dekoriert. So eine Blume hatte Kiana noch nie gesehen.
Wie so vieles hier.
Nadschib lächelte. „Wusste ich doch, dass dir das helle Grün vortrefflich steht, kleine Schwester!“
Die alte Frau erhob sich von ihrem schwebenden Teppich, trank i hren Becher in einem Zug aus und gab ihn Nadschib zurück. „Vielen Dank, mein Freund, und gute Geschäfte weiterhin!“
Nadschib hob Kianas altes Kleid vom Boden auf, legte es auf den Pfeilteppich und verneigte sich noch tiefer als vorhin. „Stets zu Diensten, edle Fatima, Klügste aller Klugen, Weiseste aller Weisen …“
Diese winkte ab. „Kommst du endlich, Töchterchen?“
Kiana stürzte das fruchtige Getränk hinunter, ve rschluckte sich, hastete hustend an der Alten vorbei ins Freie, um möglichst schnell möglichst viel Weg zwischen sich und Nadschibs Augen zu bringen, und geriet geradewegs in das Blickgewitter der Händler und Basarbesucher. Wann würde sie endlich aufwachen? Alles, sogar lebenslanger Dienst bei Tante Shabnam, war besser als dieses gemeine Angestarrtwerden.
„So warte doch!“, beschwerte sich die alte Frau - Fatima. Ihr Teppich und der mit dem Pfeilmuster folgten ihr wie Hunde. Was niemanden hier zu verwundern schien.
Die Alte ging an Kiana vorbei zu einem Laden mit Backwerk. „Such dir aus, worauf du Appetit hast, Töchterchen!“, bot sie an und kaufte an drei verschiedenen Ständen Köstlichkeiten, die in Kiana diesen neidischen Hunger weckten, der sie immer befiel beim Anblick von unbegrenzt schlemmenden Menschen. Fatima zahlte mit etwas, das wie kleine, weiße Steinchen aussah. Diese wurden von den Händlern überaus dankbar angenommen. Zaubersteine?
Kiana blieb vor einem Stand stehen, der herrliche rote Äpfel in der Auslage hatte. Sie dufteten wunderbar. Voller Scheu zögerte sie, das Angebot der alten Frau anzunehmen und um einen Apfel zu bitten, als Fatima rief: „Das sind Hörneräpfel. Davon würde ich die Finger lassen, außer du willst, dass dir Hörner wachsen.“
Nein, das wollte Kiana nicht.
Fatima lud ihre Einkäufe auf den noch immer schwebenden Pfeilteppich, suchte einen schattigen Platz zwischen einem Waffenstand und einem Eselstall, senkte ihren eigenen Teppich auf Kniehöhe, ließ sich darauf im Schneidersitz nieder und reichte Kiana einen gelben Apfel. „Keine Sorge, Mädchen! Dieser Apfel hier ist ganz ohne Zauber. Greif zu! Du bist bestimmt
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