Goldfalke (German Edition)
sie eine gute Tarnung.“
Nesrin pustete die Luft aus. „Du hast doch auch keine.“
„Ich bin eine alte Frau, auf die niemand achtet.“
„In so einem Ding ersticke ich!“
„Wenn du keine Burka willst, musst du wenigstens Mantel und Schal überwerfen.“
Trotzig zog Nesrin eine Schnute. „Bei der Hitze? Da zerfließe ich ja!“
Die Seherin rollte die Augen. „Dann bleibst du eben hier und fängst schon mal an, zweckmäßige Kleidung für Amir auszusuchen. Du findest alles im Laden von Nadschibs Schwester. Wie heißt sie doch gleich noch? Wie auch immer! Komm, Kiana!“
Kiana nahm ihre Burka an sich, warf sie sich über und trat zu der Mauer hinter den Zelten des Bunten Basars, die diesen von ihrer Vergangenheit trennte. Begreifen konnte sie das nicht. Noch immer kam es ihr vor, in einem Traum zu sein, einem schönen und schrecklichen und bunten Traum, aus dem sie gleich aufwachen und zurück in ihren normalen lehm- und betonfarbenen Alltag wechseln würde.
Und sie war sich nicht sicher, ob sie das wollte.
Ihren Teppich klemmte sie sich unter einen Arm. Vorsichtig tasteten ihre Fingerkuppen über den sandfarbenen Mauerputz mit den Goldornamenten. Sie meinte, an einer Stelle ein flirrendes Gefühl zu spüren. Hatte die Seherin nicht beim letzten Mal gesagt, die Mauer wäre auf den Herzschlag eingestimmt? Oder so ähnlich. Sachte schob Kiana ihre Brust ganz nah an die Wand heran, und schon war sie durch die Mauer durchgetreten, dank eines beherzten Stoßes von Fatima, die hinter ihr hindurch kam.
Sofort hatte die Stadt Kiana wieder, diese Mischung aus Reichtum, Not und Notdurft. Eine Stadt, die alles zu missbilligen schien, was mit Freude zu tun hatte, und die nicht mal dann zufrieden war, wenn sie einen unter ihr Joch gezwungen hatte.
Nur zu deutlich war sich Kiana der Tatsache bewusst, dass sie jetzt nur mit einer alten Frau und ohne männliche Begleitung unterwegs war. Ein gehetzter Blick in alle Richtungen verriet jedoch, dass niemand Anstoß nehmen konnte, da sie allein in dieser Seitenstraße waren. Halt nein, dort hinten spielten drei Jungen mit einem zerknautschten Ball, doch keiner von ihnen beachtete die alte Frau und das Mädchen.
„Ab hier gehst du allein“, bestimmte Fatima. „Ich kehre zurück in den Basar und verhandle mit Nadschib über einen Teppich und Kleidung für Amir. Du weißt, wie du zurückkommst. Lege einfach deinen Oberkörper an das Gesicht dieses Wichtigtuers hier!“ Sie deutete auf das zerschlissene Plakat des Präsidenten. „Das Tor wird auf deinen Herzschlag reagieren.“
„Und was mache ich, wenn Amir nicht mit will? Er wird mir kaum glauben, wenn ich ihm sage, dass hinter dieser Mauer ein Zauberland auf ihn wartet.“
Die Seherin wedelte den Einwand wie eine lästige Fliege beiseite. „Dann überzeugst du ihn eben. Und vergiss nicht: Das Tor wird dich erkennen, Amir aber nicht. Du musst ihn an der Hand nehmen und mit ihm zusammen durchgehen. Ich erwarte dich im Basar.“ Sie wandte sich um zur Mauer, dann stutzte sie und ließ ihre mageren Schultern nach unten sacken. „Bei den feuchten Darmwinden eines überfressenen Riesenskorpions! Ich kann mich einfach nicht heraushalten!“
Verwirrt blinzelte Kiana. „Wie bitte?“
Mit einem Seufzer entrollte die alte Frau ihren Teppich und hielt ihn an ihre Kehrseite. Der Teppich kippte in die Waagrechte und schaufelte seine Herrin schwungvoll, aber behutsam auf. Fatima rückte ihre Beine zurecht. „Ich hatte gerade eine Vision. So etwas überfällt mich ohne Vorwarnung. Wie damals, als ich gesehen habe, dass ich dich in die Klare Welt holen musste, um ein Unglück zu verhindern.“
„Und was hast du jetzt ges ehen?“
„Es hat gar nichts mit uns zu tun. Ich habe es zufällig aufgeschnappt und muss mich einfach darum kümmern. Steig auf den Teppich! Keine Sorge, sowohl die Kinder da vorne wie auch jeder andere wird uns nur als Luftzug wahrnehmen, solange wir schnell genug fliegen. Komm einfach mit, halte den Mund und lerne!“
Noch immer demütigend unbeholfen stieg Kiana auf ihren Teppich und musste sich beeilen, um der alten Frau hinterher zu kommen. Schnell wie eine Schwalbe flog Fatima um die Ecke und hielt so ruckartig vor einem Elektroartikelgeschäft an, dass Kiana fast auf sie drauf geknallt wäre. Die alte Frau schob sich zurück, bis sie am hinteren Teppichrand saß. Der vordere Rand stellte sich auf, Fatima duckte sich dahinter wie hinter ein Schild und krachte dann wie eine Kanonenkugel durch eine
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