Goldfalke (German Edition)
Schützling allein zurückließ.
Kiana versuchte , das Bild des Messers an der Kehle der jungen Frau abzuschütteln und sich auf ihre Aufgabe zu besinnen. Sie wendete und flog so schnell, wie sie konnte, den Hügel hoch zum Haus ihres Onkels. Und gleich rein in die Scheune, wo sie geschützt vor zufälligen Blicken abstieg. Bei dem Versuch, ihren Teppich wie Nesrin oder Fatima mit einem einzigen Schwung zusammenzurollen, knallte er ihr ins Gesicht. Mit einem Fluch rollte sie ihn per Hand ein, klemmte ihn unter den Arm und trat hinaus auf den Hof. Durch die angelehnte Tür zur Küche konnte sie erkennen, dass Madina nach wie vor Gläser abtrocknete, und dass das Abspülwasser nach wie vor nicht kochte.
Als wäre Kiana nie weg gewesen.
Madina drehte sich zu ihr um. „Oh Gott! Was ist mit deiner Burka? Mutter wird dich umbringen! Und was ist das für ein Gebetsteppich? Wo hast du ihn so plötzlich her?“
„ Mach dir keine Sorgen!“, sagte Kiana. „Es ist alles in Ordnung. Ich muss schnell noch was erledigen.“
„Aber beeil dich bloß, bevor Mutter denkt, dass du dich vor der Arbeit drückst!“
„Ja, ja!“ Kiana drehte sich um und lie f zum Haus der Hasans. Ohne Anzuklopfen ging sie durch den Hintereingang. „Amir!“, rief sie. „Bist du daheim? Oh bitte, sei daheim!“
Es war eine ärmliche Behausung, die Amir mit seinem Vater b ewohnte. Sie bestand aus zwei Räumen. Der größere, den Kiana nun betreten hatte, war Wohn- und Schlafbereich gleichermaßen, während sich im kleineren nebenan die Küche und eine Vorratsnische befanden. Von dort kam Amir Kiana entgegen. „Was willst du denn hier? Und noch dazu mit zerrissener Burka! Solltest du nicht drüben sein und euren wichtigen Besuch bekochen?“ Sein Tonfall zeigte, dass er alles andere als erfreut war.
Was vielleicht daran liegen mochte, dass er ihr i mmer noch böse war wegen der Sache mit dem Hebel der Wasserpumpe, den sie ihm zwischen die Beine gerammt hatte. Doch auf derartige Empfindlichkeiten konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. „Du musst mich begleiten, Amir. Bitte! Ich brauche dich!“
Seine Augenbrauen zogen sich z usammen. „Warum? Was ist los?“
„Das erzähle ich dir später.“ Kurz erwog sie, den Teppich schweben zu lassen und so Amirs Interesse zu wecken, verwarf die Idee aber sofort. Womöglich würde er langwierige Erklärungen verlangen, für die sie keine Zeit hatte. Daher tat sie das, was bisher immer gewirkt hatte: Sie floh. Schnell war sie durch die Vordertür draußen.
„ Halt!“, hörte sie Amir rufen. „Wo willst du denn hin, verdammt noch mal?“ Wie erwartet eilte er hinter ihr her. Sein Pflichtgefühl würde es nicht erlauben, sie ohne männliche Begleitung durch die Gassen rennen zu lassen, das wusste sie.
Kaum dass sie begonnen hatte, den Hügel hinunter zu sprinten, stutzte sie. Denn sie sah Mustafa ein paar Schritte vor sich. Er musste das Haus verlassen haben, als sie Amir gesucht hatte.
Ja, das war eindeutig Mustafa, auch wenn er um den Bauch herum etwas dicker wirkte als sonst. Trug er etwas unter dem Hemd? Und sein Musikgerät mit den Kopfhörern hatte er auch um. Kiana wusste, dass da ständig das gleiche Programm lief: heilige Verse, nichts als heilige Verse in einer endlosen, betäubenden Litanei.
Warum ging Mustafa runter in die Innenstadt, wenn wie heute wichtige Männer zu Besuch waren, die er als einziger Sohn des Hauses mit seiner Anwesenheit zu ehren hatte? Einfach fortzugehen war den Gästen gegenüber mehr als unhöflich. Und für den sanften Mustafa sehr ungewöhnlich. Kiana packte ihn am Ärmel seines knielangen, wollweißen Hemds. „Mustafa, was tust du hier?“ Da sie verschleiert war, fügte sie vorsorglich hinzu: „Ich bin’s, Kiana.“
Er drehte sich zu ihr um . Seine Seele kehrte zurück aus weiter Ferne, wie es schien. „Cousinchen?“ Er nahm einen seiner Ohrstöpsel heraus, warf einen kurzen, verwirrten Blick auf den Teppich unter Kianas Arm und auf Amir, der sie inzwischen eingeholt hatte. Dann legte Mustafa eine Hand auf Kianas Schulter. „Du solltest heimgehen.“
„Das solltest du auch“, erwiderte sie. „Dein V ater wird toben, wenn du ihn mit den Gästen allein lässt.“
„ Mach dir um Vater keine Sorgen! Ich muss etwas Wichtiges erledigen. Und jetzt geh heim und flicke deine Burka!“ Die Andeutung eines Lächelns strich um seinen Mund. Dann wandte er sich um und setzte seinen Weg fort, ohne noch einmal zurückzuschauen.
„Was trägt er unter
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