Goldfalke (German Edition)
seinem Hemd?“, murmelte sie mehr zu sich als zu Amir .
Dieser antwortete nicht, doch in dem Blick, den er Mustafa hinterherwarf, lag Bewunderung und ein Anflug von Neid. Und dann Zorn, als er Kiana am Arm packte und knurrte: „Auf jeden Fall verlässt er sich darauf, dass ich dich nach Hause bringe. Also komm jetzt!“
Sie zwang sich, ihre unheilschwangeren Gefühle Mustafa gegenüber zurückzudrängen. Zumindest vorerst. Bis sie ihre Aufgabe erfüllt hatte. Bis sie Amir in die Klare Welt gebracht hatte. Und in einer versunkenen Stadt voller boshafter Dschinns eine Schriftrolle gefunden hatte. Und ihre Mutter aus der Gewalt des Schrecklichen Sultans befreit hatte.
Und so we iter.
Kiana riss sich los und begann wieder zu rennen. Wissend, dass Amir sie schnell einfangen würde, hob sie den Saum ihres Kleides und sprang so schnell sie konnte über Abwasserrinnen und Schrott am Straßenrand.
Da! Endlich tauchte das Präsidentenplakat im engen, vergi tterten Sichtfeld ihrer Burka auf. Sie stoppte so schnell, dass Amir an ihr vorbeiraste. Fluchend hielt er an.
„Hier sind wir schon.“ Kiana tastete über das Plakat und spürte … brüchiges Papier.
„Was soll das, verdammt noch mal?“, schimpfte Amir. „Hast du den Verstand verloren, hier rumzurennen wie eine Irre? Wenn dein Onkel das wüsste, würde er dir Anstand einbläuen!“
Kiana versuchte, Amir nicht zu beachten und all ihre Sinne auf die Wand zu richten. Wie war das gleich noch? Ah ja, der Herzschlag. Sie drückte ihre Brust gegen das Plakat.
Nichts passierte.
Sie bewegte ihre Brust über das Papier.
Wieder nichts.
In den Augenwinkeln sah sie, wie Amirs Wangen rot wurden, während sie ihren Busen in Kreisbewegungen über das Gesicht des Präsidenten rieb.
„Wenn du nicht sofort damit aufhörst und mitkommst“, schäumte Amir, „dann schleife ich dich an den Haaren nach Hause!“
Kiana zweifelte nicht daran, dass er diese Drohung sogleich umsetzen würde. Sie riss sich die Burka vom Kopf, um bessere Sicht zu haben. Und sie erkannte: Sie war am falschen Ort. Es war der gleiche Präsident und das gleiche Wahlplakat. Aber es hing an der falschen Mauer. In der Hektik war Kiana in die falsche Straße eingebogen.
Amir griff nach ihr.
Sie warf ihm die Burka entgegen, hob erneut - ja, scha mlos, aber das konnte sie jetzt nicht ändern - den Saum ihres Kleides an und floh um die Ecke. In die richtige Straße. Sie hielt vor der richtigen Mauer und dem richtigen Plakat.
Dann endlich, als sie Amirs unerbittlichen Griff um ihren Oberarm spürte, gab die Wand nach. Kiana trat hindurch und zog Amir mit. Erleichtert atmete sie die saubere Luft der Klaren Welt ein, die durchzogen war vom Duft des Bunten Basars. Dem Duft nach Räuchereien und gebrannten Mandeln und Kamelen und Farben.
„Jetzt kannst du mich loslassen“, teilte sie Amir mit und nahm ihm die Burka aus der Hand.
Der zog seine Finger so blitzschnell von ihr fort, als hätte er sich an ihr verbrannt. „Was ist das hier? Träume ich? Werde ich verrückt?“ Er starrte einem kleinen Mädchen hinterher, das auf den Schultern eines affenähnlichen Wesens mit langhaarigem, blassrosa Fell ritt. In das Fell waren unzählige Zöpfchen geflochten, zusammengehalten durch bunte Schleifchen und Haarklammern. Wie es sich für den Dschinn eines kleinen Mädchens gehörte.
Kiana lächelte. Sie war stolz auf sich, ohne Fatimas Hilfe den Durchtritt durch das Zaubertor geschafft zu haben. Und es tat gut, sich Amir überlegen zu fühlen, was selten genug vorkam. „Nein, du bist nicht verrückt. Das hier ist eine magische Welt hinter dem, was du als das normale Leben kennst. Und diese magische Welt braucht deine Hilfe. Du musst keine Angst haben, dass dein Vater dich vermissen wird, wenn er heimkommt. Wenn du durch dieses Tor zurückkehrst, wird drüben nicht mal ein Augenblick vergangen sein.“
„Wie ist das möglich?“ Überfordert drehte er sich um seine Achse und erinnerte Kiana an ihr eigenes Staunen, ihr eigenes Erschrecken, ihr eigenes Bezaubertsein beim ersten Besuch im Bunten Basar. Wie lange war all das her? Tage? Minuten? Ihr erschien es fast wie Jahre, so viel war passiert seitdem.
„Da seid ihr ja! “ Die Seherin flog auf ihrem Teppich heran. „Willkommen in der Klaren Welt, Söhnchen! Ich heiße Fatima und hoffe, dass ich es nicht bereuen werde, deine Reise hierher veranlasst zu haben. Und jetzt überwinde deine Verblüffung und komm mit! Wir haben keine Zeit zu verschwenden.“ Damit
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