Goldfalke (German Edition)
der Fensterscheiben im ersten Stock über dem Elektroartikelgeschäft.
Kiana fuhr zusammen, ihr Teppich schwankte, doch sofort hatte sie ihn wieder unter Kontrolle und folgte Fatima. Beim Flug durch das zerstörte Fenster blieb ihre Burka an einer Glasscherbe hängen, die noch im Fensterrahmen steckte. Es gab ein kurzes reißendes Geräusch, und Kiana war wieder frei. Der Gedanke, was Tante Shabnam zur Strafe für den Riss in der Burka mit ihr tun würde, schoss durch Kianas Gedanken, verblasste aber sofort wieder bei dem Bild, das sich ihr nun bot.
„Halt ein, du wahnsinniger Trottel!“, donnerte Fatima.
Alle im Raum erstarrten - die weinende Frau, die mit tränenüberströmtem Gesicht an der Wand lehnte, genauso wie der Mann, der einer jungen Frau ein Messer an die Kehle drückte.
„ Dämonen aus der Hölle!“, hauchte die weinende Frau entsetzt, während ihr Blick zwischen der Seherin und Kiana hin- und herzuckte.
Fatima richtete ihren Zeigefinger auf den Mann. „Leg s ofort das Messer weg, du Esel!“
I n den aufgerissenen Augen des Mannes stand blanke Angst, die sich sogleich mit Trotz überzog. „Wer auch immer du bist, Hexe, du wirst mich nicht davon abhalten, meine Pflicht zu tun!“
Fatima stieg von ihrem Teppich. „Deine Pflicht ist es, dein einziges Kind zu ermorden?“
Das Messer in seiner Hand begann zu zittern. „Sie hat meine Ehre verletzt. Hat sich schwängern lassen! Ich wusste, dass ihre Berufsausbildung ein Fehler war. Ich hätte sie daheim einsperren sollen, wie es sich gehört.“
Fatima machte einen Schritt auf ihn zu. „Und doch hast du ihr Geld gern genommen, das sie als Übersetzerin verdient hat, nicht wahr? So viel wirft deine Elektro-Klitsche schließlich nicht ab.“
Der Mann schluckte. „Woher weißt du das alles? Wer bist du? Was bist du? Bist du ein Teufel, der mich in Versuchung führen will?“
„Ich will dich vor dem größten Fehler deines erbärmlichen Lebens bewahren, du blindwütiger Narr! Du hast ein Geschenk erhalten. Das größte Geschenk, das ein Mensch bekommen kann: dein Kind. Und wie dankst du es? Indem du es umbringst?“
„Sie hat Schande über uns g ebracht! Ich muss es tun. Für die Ehre meiner Familie und für Gott!“
„Glaubst du, Gott br aucht ausgerechnet dich Einfaltspinsel dazu, um jemanden zu töten?“ Ihr Zorn schoss zu der Frau an der Wand. „Und du? Was stehst du da und heulst, statt das Leben deiner Tochter zu verteidigen? Wie kannst du irgendjemandem gestatten, dein Kind zu ermorden? Ich verachte dich mehr, als ich sagen kann. Du verdienst den Titel Mutter nicht!“
Die Angesprochene hob klagend die Hände. „Was könnte ich arme Frau schon gegen meinen Mann ausrichten?“
„Rückgrat zu zeigen wäre ein Anfang.“ Fatima kramte in den Tiefen ihres Mantels und brachte eine Faust voll Pulver zutage, das sie in die Luft warf. „Seht her, ihr Dummköpfe!“
Es war ein anderes Pulver als das gestern Abend. Gelb wie Safran rieselte es herab, verdichtete sich dabei, verdünnte sich, verschob sich, bis ein Bild zu sehen war. Ein Bild, das sich bewegte, fast wie in einem Film. Es zeigte einen kleinen Jungen beim Klavierspielen. Und plötzlich war der Raum erfüllt von wundervoller Musik.
„Das ist euer Enkelkind“, erklärte Fatima. „Das Enkelkind, das eure Tochter unter ihrem He rzen trägt und das du, alter Narr, gerade im Begriff bist zu töten. Das einzige Enkelkind, das ihr jemals haben werdet, und weit mehr als ihr verdient. Hier übt der Junge gerade auf dem Konzertflügel seines italienischen Vaters. Euer Enkel wird ein begnadeter Pianist sein, der weltweit Konzerte geben und euch wertloses Pack ernähren wird, nachdem euer Laden endgültig pleite gegangen ist. Wenn ihr jetzt eure Tochter ermordet, werdet ihr im Alter arm sein und allein. Wenn ihr sie am Leben lasst, werdet ihr eine Familie haben und vom Geld eures Enkels unverdient schmarotzen können.“
Das Bild des Jungen verblasste, als das gesamte Pulver zu Boden gerieselt war. Der Mann ließ das Messer fallen und sackte kraftlos in den Sessel, der neben ihm stand. Die Frau an der Wand eilte zu ihrer Tochter, schloss sie in die Arme und schluchzte mit ihr zusammen.
„So!“ Die Seherin drehte sich zu Kiana um. „Das wäre erledigt!“ Sie stieg auf ihren Teppich und flog aus dem Fenster.
Erschüttert vom Gefühlsgewitter der Elektrohändler-Familie folgte Kiana der alten Frau, bis diese im vollen Flug durch das Plakat des Präsidenten schoss und ihren
Weitere Kostenlose Bücher