Goldfasan
Brauser in Wanne und hatte Glück. Eine Frauenstimme meldete sich am Telefon und gab nach anfänglichem Zögern bereitwillig Auskunft. Ja, die Firma habe im letzten Oktober für eine Familie Munder in Herne gearbeitet. Ein Umbau im Keller. Nein, sie selbst sei nie in dem Haus gewesen. Die Arbeiten habe ihr Mann beaufsichtigt, aber der sei kurz darauf eingezogen worden und seitdem an der Ostfront. Arbeiter? Nein, nein, dafür werfe ihr Geschäft nicht genug ab. Einige Fremdarbeiter, von Zeit zu Zeit, das ja. Ja, auch bei diesem Auftrag. Nein, alle Polen seien schon wieder abgezogen worden. Wohin? Das könne sie leider nicht sagen. Da müsse der Kommissar sich schon selbst bemühen. Aber einen von ihnen habe sie in den letzten Tagen zufällig in Wanne-Eickel gesehen. Er sei aus der dortigen Polenkneipe gekommen. Ja, der sei bei den Arbeiten im Hause Munder dabei gewesen. An allen Tagen. Sein Name? Kaczyk oder so ähnlich. Vorname? Da müsse sie nachschauen. Wenn der Kommissar einen Moment …
Golsten wusste, welche Kneipe die Frau meinte. Es gab in Herne nur eine Gaststätte, die eine Ausnahmegenehmigung der Polizeibehörden hatte, Polen zu bewirten. Für die meisten Deutschen waren diese Polenkneipen tabu.
»Hören Sie?« Frau Brauser war wieder am Apparat. »Es handelt sich um einen gewissen Josef Kaczyk. Er war nur kurz bei uns. Aber er hat immer gut gearbeitet. Wir hatten keinen Grund zur Klage.«
»Können Sie mir sagen, wie alt der Mann ist?«
»Kaczyk ist Jahrgang 1918.«
»Und wann genau war er bei Ihnen?«
»Vom 1. September bis 1. November 1942.«
Der Hauptkommissar verabschiedete sich. Kaum hatte er den Hörer zurück auf die Gabel gelegt, schrillte das Gerät.
»Ja, bitte?«
»Du solltest möglichst schnell zur Rechtsmedizin in Bochum kommen. Ich warte hier auf dich.« Am Apparat war sein Kollege Schönberger.
»Warum?«
»Freitagnachmittag wurde im Rhein-Herne-Kanal eine weibliche Leiche gefunden. Da ich am Wochenende Bereitschaft hatte, ist die Angelegenheit auf meinem Schreibtisch gelandet.«
»Und?«
»Ich habe mir die Tote gerade angesehen. Sie ähnelt deiner verschwundenen Polin. Soweit man das nach der langen Liegedauer im Wasser sagen kann. Aber sie ist Polin, das steht fest.«
Golsten dachte nicht lange nach. »Ich komme.«
Golstens Schritte hallten im Keller der Bochumer Rechtsmedizin. Ihn fröstelte. Er kannte die Örtlichkeit von vielen Besuchen, aber ihn schauderte es immer noch, wenn er durch die langen, weiß gekachelten Flure mit den grellen Deckenlichtern lief.
Golsten öffnete die Tür am Kopfende des Ganges und betrat den Obduktionssaal. Auch hier war alles zweckmäßig: raumhoch die Fliesen, weiß die Schränke an den Wänden, die die Instrumente der Rechtsmediziner enthielten. Drei Metallpritschen standen im Raum, auf einer von ihnen lag eine weibliche Leiche auf dem Rücken. Ihr Brustkorb war nur notdürftig vernäht, die Haut der Toten war grau, einige Stellen fleckig grün und seltsam gefaltet. Es roch intensiv nach Alkohol, Formaldehyd und Verwesung. Je näher Golsten der Toten kam, desto unerträglicher wurde der Geruch. Ja, die Frau sah dem Foto der verschwundenen Polin tatsächlich ähnlich.
Der Rechtsmediziner steckte sich eine Zigarette an und meinte: »Die Tote ist am Freitagnachmittag eingeliefert worden. Die Frau ist eindeutig an der Schussverletzung gestorben.«
»Was für eine Schussverletzung?«
»Ach ja, das können Sie ja nicht sehen.« Der Mediziner trat an den Tisch, griff in die Haare der Toten, hob den Kopf vorsichtig an und drehte ihn. Nun bemerkte auch Golsten das fast kreisrunde Loch im Hinterkopf. »Das Projektil steckte noch im Kopf. Es hat das Schädeldach durchschlagen und ist im Kleinhirn stecken geblieben. Sie war sofort tot.«
Schönberger, der sich im Hintergrund des Raumes aufgehalten hatte, trat vor. »Das Projektil ist vom Kaliber 7.65, vermutlich abgefeuert aus einer …«
Doch der Mediziner ließ sich seinen Auftritt nicht nehmen. »Das können Sie doch sicher nachher noch besprechen. Also, wie Sie sehen können, beginnt sich die Haut bereits abzulösen.« Er griff zu der linken Hand der Leiche und streifte einen Teil der Haut wie einen Handschuh ab. Golsten schluckte heftig. »Daran erkennen wir, dass der Körper mindestens sieben Tage, vermutlich aber eher zwei Wochen oder länger im Wasser gelegen hat. Dafür spricht auch der Algenbefall. Fäulnis dagegen ist noch nicht aufgetreten. Einen solchen Befund haben wir erst nach
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