Goldkehlchen: Kriminalroman (German Edition)
kurz. Im Saal herrschte immer noch Totenstille. »Sie alle haben natürlich von den letzten Ereignissen im Chor erfahren. Selbstverständlich sind die Verantwortlichen bemüht, alles Erdenkliche zu tun, um diese Dinge aufzuklären. Die Kommissare Kroll und Wiggins leiten die Ermittlungen federführend und sind, so denke ich, auch schon ein gutes Stück vorangekommen. Die Polizei hat mich gebeten, Sie heute hierher einzuladen, um die weiteren Schritte abzustimmen und Sie auf den aktuellen Stand zu bringen.«
Er drehte sich wieder zu Kroll. »Ich denke, das kann Ihnen Herr Hauptkommissar Kroll jedoch alles besser erklären.«
Kroll erhob sich und kam ohne Umschweife gleich zum Thema. Er berichtete ausführlich von den ersten Ermittlungen an Bachs Grab und verschwieg auch nicht die Schwierigkeiten, die sie anfangs bei diesen ungewöhnlichen Ermittlungen hatten, und dass sie im Dunkeln getappt waren, bis sie endlich auf die Geschichte mit der Harras-Sage gekommen waren. Kroll las die Sage vor und gab sich viel Mühe, die Parallelen zum aktuellen Fall deutlich aufzuzeigen. Er kam immer wieder auf die jeweiligen Aufgaben in der Sage zu sprechen und handelte die jüngsten Ereignisse sorgfältig ab. Ein vereinzeltes Nicken im Publikum verriet ihm, dass die Zuhörer ihm folgten.
Nachdem er die ungewöhnlichen Geschehnisse um das Verschwinden von Johannes erzählt hatte, bat er die anwesenden Eltern ausdrücklich, ihm Fragen zu stellen. Im Nu schnellten viele Arme nach oben. Kroll sah eine Frau mittleren Alters, die in der zweiten Reihe saß, an und bat sie mit einem Nicken, ihre Frage zu stellen.
»Was ich nicht verstehe, Herr Kommissar, ist, welchen Sinn das alles machen soll. Gut, die Übereinstimmungen mit dieser Sage sind nicht zu übersehen, aber worauf soll das hinauslaufen?«
Kroll hörte sich die Frage mit großem Interesse an und hielt bewusst den Blickkontakt mit der Mutter aufrecht. Bevor er antwortete, machte er eine kleine Pause. »Wir sind uns ziemlich sicher, dass hinter sämtlichen Taten der familiäre Hintergrund der Sage steckt. Wäre Ritter Harras nicht mit Hilfe des Teufels nach Leipzig zurückgekehrt, hätte seine Frau wohl ein Kind von einem anderen Mann empfangen.«
»Wir reden also über ein Kuckuckskind?«, ertönte der Zwischenruf eines männlichen Besuchers.
»Davon gehen wir aus«, bestätigte Kroll nüchtern.
Dem Gemurmel war deutlich anzuhören, dass die Verunsicherung im Saal groß war. Kroll tat, als würde er dies nicht bemerken, und ließ die nächste Frage zu.
»Herr Kommissar Kroll, könnten Sie uns bitte einmal erklären, welche konkreten Schlüsse Sie aus der ganzen Angelegenheit ziehen? Mir kommt das alles doch sehr spanisch vor.«
»Gern«, versuchte Kroll, beruhigend zu wirken. »Wir glauben, dass der leibliche Vater eines sogenannten Kuckuckskindes auf sich aufmerksam machen will. Er sieht offensichtlich keine Möglichkeit, mit seinem Sohn in Kontakt zu treten. Die Harras-Sage kommt ihm da wie gerufen. Er hat jetzt die Aufmerksamkeit, die er braucht, und er hat durch die insgesamt vier Aktionen sein Druckpotenzial erheblich erhöht. Außerdem hat er durch den Zettel in der Thomaskirche ja noch ausdrücklich selbst auf die Sage hingewiesen. Er möchte jetzt die Mutter aus der Reserve locken und zu einer Reaktion zwingen. Offensichtlich geht er davon aus, dass ihm selbst niemand glauben wird, vor allem nicht sein Sohn.«
»In der Harras-Sage ist als Nächstes von der Tötung eines Kindes die Rede!«, ertönte wieder ein Zwischenruf.
»Das ist ja genau das, was ich meine«, nahm Kroll die Bemerkung aus dem Publikum wieder dankbar auf. »Der Täter lehnt sich nun zurück und denkt: Also gut. Bis hierhin bin ich jetzt gegangen. Jetzt bist du dran, Mutter. Erzählst du unserem Sohn endlich, wer sein richtiger Vater ist, oder muss erst ein großes Unglück passieren?«
»Glauben Sie, dass tatsächlich ein Kind in Gefahr ist, oder blufft der Täter nur?«, meldete sich wieder ein Zwischenrufer.
»Diese Frage kann ich Ihnen leider nicht beantworten. Wir als Polizei müssen natürlich immer den sichersten Weg gehen. Das heißt, wir bereiten uns auf alle Eventualitäten vor.«
Ein Vater stand auf und reckte den Arm nach oben. Kroll sah sich gezwungen, ihn zu Wort kommen zu lassen. »Also jetzt mal ehrlich, Herr Kommissar. Ihre Theorie ist ja gut und schön. Aber sie setzt doch immer voraus, dass der sogenannte Täter tatsächlich davon ausging, dass die Parallelen zur Harras-Sage
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