Goldmacher (German Edition)
das Peace-Zeichen. »Vergiss nicht, nur Liebe kann die Welt retten«, hatte sie ihm am Morgen zum Abschied mit auf den Weg gegeben. Er stellte sich das Pfeifkonzert vor, würde er Sissis Worte ins Publikum rufen, und unwillkürlich huschte das schalkhafte, leicht ironische Lächeln über Antons Gesicht.
Der Scheinwerfer kippte hoch und das Licht flutete jetzt über die ersten Reihen hinweg durch weitere Scheinwerfer verstärkt in den Saal hinein, es hob unzählige Gesichter, sehr junge, sehr ernste Gesichter aus dem Dunkel hervor, und überwältigt von der Jugend dieses Publikums, ergriff Anton spontan erneut das Wort. Er rief bewegt ins Mikrofon: »Ihr wisst nicht, was Krieg ist! Und ihr werdet es hoffentlich auch nie erfahren!«
Anton war bereit, den Pfiffen leidenschaftlich zu begegnen, doch die aufgebrachten jungen Männer und Frauen, überwiegend Studenten, unter ihnen auch Schüler und Lehrlinge, reagierten dieses Mal nicht. Sie waren damit beschäftigt zu verfolgen, wie einige von ihnen, aber auch ganze Gruppen die Gelegenheit nutzten, um vor dem Mann, der sich mit laufender Kamera auf der Schulter entlang den Sitzreihen bewegte, Spruchbänder zu entrollen, auch jenes mit der Aufforderung »Schaffen wir ein zwei drei Vietnam!«
Anton nahm einen langen Zug aus dem Wasserglas, und während auf dem Podium weiterdiskutiert wurde, beobachtete er, wie die Lichtschneise langsam von der einen zur anderen Seite des überfüllten Saals wanderte. Reihen von Jugendlichen sprangen auf, hielten Plakate mit Peace-Zeichen hoch oder streckten ihre Fäuste zum sozialistischen Gruß aus. Sie erschienen ihm nun nicht nur sehr jung und sehr ernst, ihre Gesichter wirkten auch irgendwie heil. »Kein Flügelschlag des großen schwarzen Vogels Unheil hat sie anscheinend auch nur gestreift«, kam ihm der Satz aus einem Bericht über amerikanische Blumenkinder in den Sinn.
Und doch machten sie sich daran, das unheilbringende Kraut, für den sie den Kapitalismus hielten, vor allem den US -amerikanischen, mit seinen Wurzeln ausreißen zu wollen. Diese hier im überfüllten Saal ebenso wie Zehntausende auf den Straßen der großen Städte, und nicht nur in der Bundesrepublik, weltweit protestierte eine junge Studentengeneration gegen Ausbeutung, Unterdrückung und vor allem gegen den Vietnamkrieg, gegen den unmenschlichen Einsatz von Napalm und Agent Orange.
Sissi waren Tränen in die Augen geschossen, als sie zum ersten Mal die Fotos aus dem Krieg in Vietnam gesehen hatte. Es waren Aufnahmen von Kindern, nackten Kindern mit verbrannter Haut, die eine Straße hinunter und auf die Kamera zuliefen, hinter ihnen die Napalmwand, das unlöschbare Feuer, das als brodelndes, sich himmelhoch auftürmendes, dunkles, undurchdringliches Wolkengebilde die Straße, die ganze Landschaft überrollen und alles, was noch nicht verbrannt war, verbrennen würde, die Kinder, die Eltern, die Großeltern, die Pflanzen, die Tiere. Auch Anton hatte sich noch nie so ohnmächtig gefühlt wie beim Anblick dieser Kriegsfotos.
Das Scheinwerferlicht verharrte nun am Rande des Saals und Anton bemerkte eine junge Frau mit einem Megafon in der Hand. Sie bahnte sich einen Weg in den Lichtkegel, dort hob sie das Megafon an den Mund und rief in Richtung Podium: »Unter den Talaren Muff von tausend Jahren.« Sie wiederholte den Spruch in einem rhythmischen Sprechgesang, was andere, die sich auch in der Lichtschneise befanden, spontan dazu brachte, auch aufzuspringen und mit in die rhythmische Wiederholung einzufallen.
Anton gab dem studentischen Diskussionsleiter ein Zeichen.
»Bitte, Herr Bluhm«, erteilte er ihm das Wort, und gleich richtete sich einer der Scheinwerfer auf Anton, der nun wissen wollte, ob mit dem Muff von tausend Jahren der des Tausendjährigen Reichs gemeint sei.
»Wenn dem so ist«, setzte er gleich nach, »dann muss es nicht Muff heißen, sondern Gestank!«
Ein kurzer Moment der Irritation, nicht nur im Saal, sondern auch am Rednertisch, dann kam langsam Beifall von Studenten im Publikum auf, die mit der Veröffentlichung der Kriegsverbrechen in Vietnam auch die Kriegsverbrechen der Nationalsozialisten aus den Kellerverliesen des Vergessens ans Licht holen wollten.
Auf dem Podium ließ sich einer der beiden Studentenvertreter das Wort geben: »Das antiautoritäre Lager hält sich mit seiner Forderung nach Beendigung des Krieges systemimmanent auf einer liberalen Stufe auf«, erklärte er den Zuhörern, »das antiautoritäre Lager muss endlich
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