Goldmacher (German Edition)
nicht gestört zu werden, ging ins Bad, zog sich aus, stellte sich vor den Spiegel und zwang sich dazu, sich selber anzusehen. Er hatte es sich abgewöhnt, ja, ausdrücklich vermieden, seinem Spiegelbild zu begegnen. Und jetzt konnte er es nicht mehr, er konnte sein Spiegelbild nicht ansehen. Es war genauso unmöglich, wie die Pillen nicht mehr zu nehmen. Das hatte er bisher nicht gewusst. Er könne von einem Moment zum anderen mit allem aufhören, hatte er bisher immer behauptet. Vor sich selbst. Und dass er sich selber in die Augen sehen könne. Aber jetzt konnte er es nicht. Und jetzt wusste er, er konnte auch nicht mit den Pillen aufhören. Nicht nur nicht von einem Moment zum anderen, überhaupt nicht!
Als er das dachte, sah er sich plötzlich im Spiegel. Und sah, dass er aufgedunsen war und seine Haut grau. Seine Arme und Beine waren im Vergleich zu seinem Körper dünn geworden. Sah er nicht aus wie ein Frosch?
Er riss die Badezimmertür auf, danach auch all die anderen Türen im Haus und lief durch alle Räume, schreckte seine Mitbewohnerinnen auf und raste weiter, er wollte zu Sissi, er rief nach ihr, auch draußen im Garten und über den Fluss hinüber. Er suchte sie überall, auch auf dem Dachboden, wo die alten Spielsachen von Simon und Moritz lagerten und die ausgedienten Möbel, auch eins der Hochbetten war darunter. Er kletterte hinauf. Es war Simons Bett, sein Name stand eingekerbt auf der Kopfleiste. Anton kroch unter die viel zu kleine Bettdecke. Und da lag plötzlich Simon neben ihm, er las ihm aus »Moby Dick« vor, sie schauten sich den Einband an, und da sah er ihn wieder, den Horizont. Jenen verheißungsvollen Horizont hinter dem großen weißen Wal, den er an seinem zehnten Geburtstag das erste Mal gesehen hatte. Er machte sich noch ein bisschen kleiner unter der kleinen Decke und schlief ein. Ohne eine einzige Pille, wie er am nächsten Morgen feststellte. Seit unendlich langer Zeit war er das erste Mal ohne eine einzige Pille eingeschlafen und erst am nächsten Morgen wieder aufgewacht.
An einem der darauffolgenden Tage, es geschah während der kleinen Konferenz, sah Anton ihn plötzlich wieder vor sich, den Horizont dahinter. Kaum war die Konferenz beendet, verließ er eilig den Raum.
Hans-Ulrich schaute ihm hinterher. Kurz darauf noch einmal, als er zufällig aus dem Fenster sah und ihn, obwohl weit entfernt, unten auf der Straße erkannte, die er in Richtung Freihafen überquerte, dann verlor er ihn aus seinem Blick. Er wird bald nicht mehr an den Konferenzen teilnehmen, dachte Hans-Ulrich. Veronika hatte er unlängst anvertraut, er müsse sich mit Antons Abwesenheit abfinden und selbst bald die Verantwortung für das Blatt übernehmen, wozu ihn die Mitarbeiter bereits drängten.
Wäre Hans-Ulrich Anton gefolgt, hätte er ihn elbabwärts, vorbei an Hafenanlagen, entlang den Speichern, über schmale Gehwege, die von geduckt an den Hang gebauten ehemaligen Kapitänshäusern gesäumt waren, bis zum Elbstrand und weiter den Fluss hinunter bis zum Leuchtturm begleiten können. Den ersten Teil des Weges legte er in einem Taxi zurück, den zweiten Teil zu Fuß.
An seinem Ziel angekommen, hielt Anton inne und schaute den breiten Strom hinunter. Und nun spürte er es, das Ziehen in seiner Brust, wie er es damals gespürt hatte, wie er es wieder hatte spüren wollen, denn hinter der nächsten Biegung würde der Strom breiter werden, um dann am Ende ins Meer zu münden, in das große, offene Meer mit dem verheißungsvollen, Zukunft bergenden Horizont. Noch war sie ihm verborgen, seine Zukunft. Aber der Tag würde kommen, da war sich Anton jetzt sicher, und er würde wie Jonas, ja, wie Jonas vom Wal würde er am Ufer jenes noch unbekannten Lands ausgespuckt werden.
Jeden Tag machte sich Anton von der Redaktion aus auf den Weg bis zur Biegung des Flusses, so vergaß er immer öfter die Pillen, auch abends.
Dann geschah es, am Tag der Maueröffnung. Er stand zwischen den Mitarbeitern, die sich alle vor dem Fernsehschirm, der eilig in der Eingangshalle des Verlagsgebäudes installiert worden war, versammelt hatten. Wie die anderen auch sah er hinauf zum Bildschirm und folgte der Woge von Menschen, die gegen die Mauer anbrandete, sah die Männer und Frauen, die sich vor den Grenzübergängen stauten und dann wie eine Flut die Grenze durchbrachen, um in das ihnen unbekannte Land zu gelangen. Anton sah auf vielen Gesichtern die Tränen großen Ergriffenseins, sah das fassungslose Staunen, und da
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