Goldmacher (German Edition)
erfasste auch ihn die Woge, durchbrach auch er die Grenze und flutete mit den vielen in das unbekannte Land, in das Land der Zukunft. Bewegt griff Anton, nicht anders als die Menschen auf dem Bildschirm, nach dem Arm seines Nachbarn, es war zufällig Hans-Ulrich.
Kapitel IV
Entfesselte Geister
1990–2001
1.
Langsam und mit Bedacht schloss er die Tür hinter sich. Sein Blick fiel auf den Schlüssel, der im Schloss steckte. Hans-Ulrich zögerte, in den vergangenen vierzig Jahren hatte er sich kein einziges Mal in seinem Büro eingeschlossen. Es war ihm einfach nicht in den Sinn gekommen. Er runzelte die Stirn, als dächte er darüber nach, doch dann drehte er den Schlüssel kurzerhand um.
Und tatsächlich, er fühlte sich gleich wohler, als müsse er in einer letzten Handlung seines langjährigen Amtes unter dem nun gesicherten Ausschluss von Zeugen geheime Dokumente aus den Schubladen und Fächern seines Schreibtisches bergen. Obwohl er doch wusste, dass sich nichts dergleichen dort noch befand. Wichtige Schriftstücke, Dossiers und vertrauliche Korrespondenzen waren längst im Archiv. Wirklich Geheimes, wie etwa die Aufzeichnungen des August Lowicki, hatte er immer gleich mit nach Hause genommen und dort im Safe verwahrt. Weshalb also diese außergewöhnliche Vorsicht?
Unwillkürlich griff sich Hans-Ulrich einen der leeren Umzugskartons, die neben der Tür standen, stellte ihn auf die Arbeitsplatte und öffnete die unterste Schublade. Und da war es, als öffne er damit etwas viel Größeres, etwas in seinem Inneren, und sein bisher aufgestauter Zorn und noch ganz andere Gefühle brachen sich überwältigend Bahn.
Seine bedingungslose Loyalität in den vergangenen schwierigen Jahren habe ihn unersetzbar gemacht, war er sich sicher gewesen. Zumal es ja auch so aussah, als sei Anton am Ende, als würde er sich nicht mehr von seinem völligen Absturz nach Sissis Tod erholen. Ausgerechnet jetzt, als Hans-Ulrichs Vertrag auslief und er schon darauf gehofft hatte, Antons Platz einnehmen zu können und damit unkündbar zu sein, war Anton unvermutet zurück. Und er hatte Hans-Ulrichs Vertrag auslaufen lassen!
Der Schock saß tief. Er hatte ihn vor Anton verborgen. Die Schmach war zu groß, er konnte ihm unmöglich zeigen, was er empfand.
»Und womit«, hatte er ihn stattdessen scheinbar amüsiert gefragt, als würde er es ironisch meinen und nicht ganz ernst, »womit soll ich mir, wenn ich hier aufhöre, meine Zeit vertreiben? Mein Geld verdienen?« Er hatte sich in den Sessel geworfen, seine Beine auf den Couchtisch gelegt, sich umständlich eine Havanna angezündet und lässig gepafft.
In Wahrheit versetzte ihn diese Frage, die weder Anton noch er selber beantworten konnte, in Panik. Es war ganz unvorstellbar, einfach aufzuhören, nicht das tun zu können, was er seit Jahrzehnten getan, wofür er gelebt hatte, das andererseits aber auch nur durch ihn überleben konnte. Davon war er immer überzeugt gewesen, selbst in vernichtenden Augenblicken wie dem der hälftigen Schenkung an die Mitarbeiter. Davon war er auch jetzt noch überzeugt, dass das Blatt ohne ihn nicht auskam. Und er nicht ohne das Blatt.
Wütend riss Hans-Ulrich die unterste Schublade aus der Halterung des Schreibtisches und kippte ihren Inhalt in den Umzugskarton. Er machte sich nicht die Mühe, die Schublade wieder einzuhängen, er stellte sie achtlos daneben und begutachtete das bunte Durcheinander unzähliger farbig lackierter Blechbuttons und Stickers, emaillierter Durchsteckknöpfe und blinkender Anstecknadeln in dem Karton. Er hatte diesen bunt leuchtenden, metallisch glänzenden Schatz im Laufe der vergangenen Jahrzehnte zusammengetragen. Von Komitees, Benefizveranstaltungen, offiziellen Festen, Tagungen, Konferenzen, Pressebällen, Festivals, Polit-Partys und Empfängen hatte er Anstecknadeln, Sticker und Buttons mitgebracht und in die unterste Schublade seines Schreibtisches geworfen. Durch die Sammlung wollte er sich später an sein ereignisreiches Leben erinnern, hatte er beim letzten Umzug seiner Sekretärin erklärt und sie ermahnt, es dürfe kein Teil davon verloren gehen.
Hans-Ulrichs Miene wurde grimmig: War es das, womit er in Zukunft nun seine Zeit verbringen würde? Sollte er vielleicht mithilfe dieser Buttons und Stickers, dieser Anstecknadeln und Durchsteckknöpfe jedes dieser Ereignisse rekapitulieren, vielleicht als Gedächtnisschulung, vorbeugend gegen Alzheimer?
Grimmig stellte er den Karton vom Schreibtisch auf den
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