Goldmacher (German Edition)
Jacken, bepackt mit Taschen und Rucksäcken, einige schleppten auch Koffer, hastig die Trümmerlandschaft. Sie hatten es eilig, die Dämmerung setzte ein. In der Dunkelheit würden wegen der spärlichen Beleuchtung nur noch diejenigen den Weg durch die Steinhaufenwüste wagen, die in dem unzerstörten Wohnblock zu Hause waren. Oder aber heute dort zu Gast: Die Familie Bluhm, die im dritten Stock wohnte, feierte an diesem bitterkalten Maiabend die Verlobung ihrer Tochter Elisabeth.
Schon seit geraumer Zeit spähte Anton von seinem Zimmer auf die Straße hinunter und beobachtete, wie die eingeladenen Freunde und Verwandten sich mühten, den im Zwielicht schwer einschätzbaren Gehweg zu bewältigen, ohne zu stolpern oder gar zu stürzen. Dabei pressten sie die in Wolldecken eingewickelten Geschenke fest an sich. Kamen sie in Hörweite, rief Anton ihnen warnende Hinweise zu oder scherzte, der Sekt sei bereits kalt gestellt, der Glühwein heiß.
Als er endlich in der Dämmerung Judiths Freundin erspähte, nach der er insgeheim Ausschau hielt, dann aber neben ihr einen Vetter bemerkte, der ihr offensichtlich unter dem Vorwand, ihr behilflich zu sein, viel zu nahe gekommen war, stieg heftiger Unmut in ihm auf. Er schloss das winzige Fenster, kehrte an den kleinen Tisch zurück und las, um sich von seiner Eifersucht abzulenken, ein weiteres Mal seinen Prolog. Er würde ihn auf Wunsch des Vaters nach dem Festessen vortragen. Und er würde ihn nur für sie, für die heimlich Angeschwärmte vortragen, beschloss er in einer plötzlichen Eingebung, wie er den Vetter ausstechen könnte.
Sofort sprang er auf und begann, den Text laut sprechend einzuüben. Niemand konnte ihn bei dieser Vortragsübung belauschen, der winzige schmale Raum, der vor dem Krieg als Vorratskammer gedient hatte und nun sein Zimmer war, lag abgelegen am Ende des Flurs.
Während sich Anton für den Wettkampf mit dem Vetter um die Gunst der Angeschwärmten rüstete, tasteten sich die Verlobungsgäste jetzt durch das Treppenhaus in den dritten Stock zur Bluhm’schen Wohnung hinauf. Nur eine einzige kahle Glühbirne im ersten Stock beleuchtete den Aufgang.
Oben an der Wohnungstür angekommen, nahmen entweder Katharina oder Ruth und Martha den Gästen die in Wolldecken verpackten Geschenke ab, befreiten sie von ihrer Verpackung und platzierten sie im ehemaligen Wohnzimmer auf dem mithilfe von Bettlaken und kleinen Aufbauten zum Buffet umdekorierten Esstisch. Denn unter den Wolldecken verbargen sich mit Küchentüchern abgedeckte Schüsseln, Schalen und Platten, Teller, Töpfe und Terrinen, gefüllt mit seit Jahren entbehrten Leckereien, mit seit Jahren ins Reich der Fantasie verbannten Köstlichkeiten.
Für ihre Zubereitung hatte sich unter den eingeladenen Verwandten und Freunden über Tage, ja, Wochen ein reger Austausch von Ersatzrezepturen entwickelt. Denn für fast jedes Gericht hatte es an der einen oder anderen Zutat gefehlt, die entweder, weil sie trotz vereinter Anstrengungen selbst auf dem Schwarzmarkt nicht aufzutreiben gewesen war, ganz weggelassen oder durch eine andere ersetzt werden musste, was häufig ein virtuos abgewandeltes Rezept verlangte. Viel Feingefühl hatten auch die sogenannten Ersatzmittel wie Ersatzmargarine oder Ersatzmilch oder Ersatzzucker von den Köchinnen gefordert. Diese Ersatzmittel veränderten nicht nur den Geschmack, sondern auch die Konsistenz, und so mussten sie neu gewichtet oder mit anderen Zutaten kombiniert werden, damit ein Auflauf oder eine Soße nicht etwa wieder in die einzelnen Bestandteile zerfiele. Kein Wunder also, dass sich nach all diesen Mühen und in Erwartung der tatsächlich unvorstellbaren Genüsse eine fast feierliche Stimmung, eine gedämpfte Erregung ausbreitete.
Die Mehrzahl der Gäste gruppierte sich um das Buffet und verfolgte mit wachsender Spannung, wie mit jedem neuen Gast weitere Schüsseln, Schalen und Platten, Töpfe, Teller und Terrinen hinzukamen. Ihr Inhalt jedoch blieb vorerst unter den Küchentüchern verborgen, was die bereits überspannten Erwartungen noch weiter steigerte.
Im Nebenzimmer begann Judith auf dem Klavier zur Festeinstimmung die von der Mutter so geliebten Rheinlieder zu spielen. Auch wenn sie Katharina heute ein wenig mit Wehmut erfüllten, ihre rheinische Verwandtschaft hatte den Wechsel von der französischen in die englische Zone, in der Hannover lag, gescheut. So blieb der Hannover’sche Teil der väterlichen Familie mit den Hannover’schen Freunden unter
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