Goldmacher (German Edition)
schließlich zornig, für ihn war die Rennerei zur Toilette Ausdruck einer allgemeinen Ablehnung, eines immer heftigeren Unwillens, der jede weitere Beweisführung über den Wunderglauben mit allen Mitteln verhindern wollte.
»Ihr wollt die Wahrheit einfach nicht hören!« Er schwenkte seine Manuskriptseiten über dem Kopf und sprang vom Schemel, drängte sich durch die irritierte Zuhörerschaft und ging in die Küche, wo er sich Wasser aus dem Hahn direkt in seinen Mund fließen ließ, er musste sich abkühlen, er hatte sich heißgeredet.
»Was für ein Jammer, dass der Anton nicht mehr weiter vorlesen will!«, klagten einige Zuhörer, doch die meisten stürzten zum Buffet, auf dem nun der Nachtisch aufgetragen war, große Schüsseln mit einer Art Rote Grütze aus eingemachten Waldbeeren und Gartenfrüchten, dazu eine improvisierte Vanillesoße.
»Du musst weiter schreiben«, hörte Anton die beschwörende Stimme von Judith hinter sich. Er stand in der Küche, die Zorneswellen ebbten gerade erst ab und wichen nun einer tiefen Enttäuschung.
»Ich tippe alles für dich, wenn du willst, ich kann dir auch Papier besorgen!« Verschwörerisch strahlte ihn Judith aus glänzenden Augen an.
»Findest du es denn gelungen?«
»O Anton, ich finde es nicht nur gelungen, ich begreife gar nicht, wie du etwas so … so … so ausdrücken kannst! Wie du aus unserer kleinen Familiengeschichte mit dem Goldmacher das ganze Tausendjährige …« Judith hielt inne, nein, sie wollte es mit keinem seiner Namen mehr benennen, das untergegangene Deutschland, und einen neuen Namen für ein neues Deutschland gab es noch nicht, es gab bisher vier Zonen, Besatzungszonen, eine englische, eine französische, eine amerikanische und eine russische.
»Wie du dieses Ganze«, fuhr sie fort und beschrieb mit beiden Händen etwas, das riesengroß und allumfassend war, »wie du das eigentlich Unerklärliche erfassen kannst! Du musst mir alles geben, alles, was du bisher geschrieben hast, ich muss es sofort lesen, sofort und auf der Stelle, bitte!«
»Du willst es wirklich lesen?« Anton wünschte, Judith würde das Gesagte noch einmal wiederholen, würde ihn immer so anschauen, voller Begeisterung, Bewunderung und Liebe, ihn, den kleinen Bruder. Er begann leise in sich hineinzulachen und lehnte seine Stirn gegen ihre Schulter, er war glücklich. Die kränkende Ablehnung, der beleidigende Unwille der anderen zählten plötzlich nicht mehr.
»Du hast das Unaussprechliche in Worte gefasst«, sagte Judith leise.
»Ich wollte einfach nur sagen, was war.« Anton lachte befreit auf.
»Dein Text ist außerordentlich«, erklärte Johann, der mit zwei Weingläsern in den Händen in die Küche kam und eins davon Anton überreichte.
»Ein außerordentliches Kunstwerk! Ich stoße mit dir auf deine glänzende Zukunft als Schriftsteller an!«
Johann schwankte leicht, er hatte bereits einige Gläser Spätlese getrunken. Anton stieß mit dem Vater an und nahm einen Schluck. Der Wein schmeckte noch immer so süß und war noch immer so schwer, wie er ihn von der Verlobung von Ruth, der ältesten Schwester, erinnerte. Die rheinische Verwandtschaft hatte damals etliche Kisten davon mitgebracht, sodass der Vorrat sowohl für die Hochzeit von Ruth vor dem Krieg, für die Verlobung und Hochzeit von Martha während des Krieges und jetzt auch noch für die Verlobung seiner drittältesten Schwester Elisabeth nach dem Krieg ausreichte.
Anton stieß noch einmal mit dem Vater an und trank nun in einem Zug das Glas leer und schaute sich gleich nach Nachschub um, er wollte jetzt feiern. Von den vorangegangenen Verlobungen und Hochzeiten wusste er, dass ein zweites Glas dieser süßen, schweren Spätlese ihn in eine verwegene Laune versetzen würde. Genau das wünschte er sich jetzt. Ein drittes Glas würde ihn enthemmen, er würde Dinge tun, die er in nüchternem Zustand ganz gewiss nicht anzetteln würde. Auch das wünschte er sich jetzt. Mit jedem weiteren Glas würde er sich dann weniger an das erinnern, was er tat.
Aber am nächsten Tag wusste er dieses Mal deutlich, was er zumindest bis zum vierten Glas Wein angezettelt hatte, bevor ihm dann nach weiterem fortgesetztem Genuss der Spätlese irgendwann die Lider wie bleischwere Jalousien heruntergefallen sein mussten.
Alles hatte damit begonnen, dass er sich in der verwegenen Laune, in die ihn das erste Glas Verlobungswein versetzt hatte, auf die Suche nach Judiths Freundin gemacht hatte, er wollte sie einfach nur
Weitere Kostenlose Bücher