Goldmacher (German Edition)
sich. Jetzt gesellte sich Anton zu Judith und sang » Warum ist es am Rhein so schön«, Katharinas Lieblingslied. Spontan hakten sich einige der Anwesenden unter und fingen an, nach der Melodie zu schunkeln. Nicht zuletzt, um warm zu werden. Aus Mangel an Briketts und Kohle war die Wohnung nur äußerst spärlich geheizt. Keiner hatte bisher gewagt, seinen Mantel oder seine Jacke auszuziehen. Und so schlossen sich immer mehr Fröstelnde den Schunkelnden an, auch Antons heimlicher Schwarm.
Sogleich stimmte Anton daraufhin ein Liebeslied aus seinem früheren Repertoire an, bis Judith abrupt die Melodie wechselte und amerikanische Negermusik spielte, wie Onkel Alfred murmelte, der sofort den Kreis verließ. Amerikanische Negermusik war ganz neu, sie war verboten gewesen. Einige versuchten auf engem Raum bisher unbekannte Tanzschritte.
Als keiner der eingeladenen Gäste mehr fehlte, gab Johann ein Zeichen an Judith und Anton, ihre musikalische Unterhaltung zu beenden, und eröffnete mit einer kurzen Begrüßung das Buffet. Schnell entstand ein großes Gedränge. Begleitet von einem anschwellenden Chor aus Ahs und Ohs, falteten Ruth und Martha die Küchentücher zusammen, lüfteten die Deckel und gaben dann Elisabeth und ihrem Verlobten Begleitschutz, damit sie sich als Erste ihre Teller füllen konnten. Was sie, wie alle anderen nach ihnen auch, ausgiebig taten. Gleichwohl verharrten sie, wie auch alle anderen, in der Nähe des Buffets, die ungewohnte Menge und Vielfalt hielt jeden im Bann.
Mit dem Verzehr der Speisen begann sich die Raumtemperatur merklich zu erwärmen, die Anwesenden heizten sie mittels ihrer Körper auf, die an diesem Verlobungsabend mit einer in den letzten Jahren unvorstellbaren Energiemenge in Form von Lebensmitteln versorgt wurden und nun Wärme abgaben. Zuerst zogen die Männer ihre dicken Mäntel oder Jacken aus, danach die Frauen. Die Frauen wurden deutlich lebhafter, endlich konnten sie ihre festlich herausgeputzten Garderoben und ihre erfinderische Nähkunst vorführen und gegenseitig bewundern. Oder auch beneiden. Einige zupften demonstrativ immer wieder den Stoff zurecht, andere strichen sich selbstverliebt über die Hüften, was die Männer aus den Augenwinkeln verfolgten und sie ermunterte, sich am Buffet an sie zu drängen.
Anton legte als Einziger kein zweites oder gar ein drittes Mal nach wie die meisten. Er war wegen seiner Lesung im Anschluss an den Festschmaus viel zu aufgeregt, der Kartoffelsalat lag ihm bereits schwer im Magen. Zudem musste er mit seiner anhaltenden Eifersucht kämpfen. Der Vetter schien bei Judiths Freundin Erfolg zu haben, sie war mit ihm entweder im Gespräch oder hörte ihm aufmerksam zu. Ihn hingegen übersah sie. Das würde ihr gleich nicht mehr gelingen, trumpfte Anton innerlich auf. Er versuchte, sich auf seinen Auftritt zu konzentrieren, und vermied es, sich wie der Vetter an den Gesprächen über »die Engländer« zu beteiligen.
Die Engländer waren gerade das Lieblingsthema aller kleineren oder größeren Zusammenkünfte in Familien- oder Freundeskreisen, denn das Thema erfüllte die wesentlichste Grundbedingung in dieser Zeit: Es betraf jeden, und keiner war davon wirklich betroffen. Alle anderen Themen, selbst die harmlosesten, konnten unvermutet ein zu großes Betroffenheitspotenzial bergen und unter den Anwesenden eine angespannte Stimmung oder aber eine plötzliche abgrundtiefe Trauer auslösen, was keiner Abendgesellschaft und auch nicht dieser zuträglich war.
Wie die Engländer, so enthielten auch die Rheinlieder vergleichsweise wenig Betroffenheitspotenzial, im Gegenteil, sie förderten eine insgesamt eher heitere Stimmung, und so setzte sich Judith während des Festschmausens immer mal wieder ans Klavier und half, keines jener Trauerlöcher, in das hineinzufallen strikt vermieden werden sollte, überhaupt erst entstehen zu lassen.
»Bisher ist nichts schiefgegangen«, meinte dann auch nach einiger Zeit Johann leise zu Katharina. Er hoffte insgeheim, auch Anton würde nicht auf die jüngste Vergangenheit eingehen, sondern in seinem Prolog mit überzeugender Geste eine Zukunft ankündigen, die von einem durch die fürchterlichen Schrecknisse der letzten Jahre kathartisch gereinigten freien Geist geprägt wäre. Johann klatschte in die Hände.
»Werte Gäste, darf ich nun um eure Aufmerksamkeit bitten.«
Er musste seine Bitte mehrfach wiederholen, die werten Gäste schienen noch nicht bereit zu sein, sich vom Buffet abzuwenden, obwohl
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