Goldmacher (German Edition)
noch einmal auf, wartete nicht länger, und Anton folgte ihm in einen spärlich möblierten Raum.
Der Officer wies auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und forderte Anton auf, sich zu setzen. Antons Blick fiel auf die schwarze Pappmappe mit den Angaben zu seiner Person und den beiden Diktatseiten, die eine unleserlich in Schreibmaschinenschrift geschrieben, die andere genauso unleserlich in Stenogrammschrift, die in Wahrheit keine war. Die Mappe lag geschlossen auf dem dunkelgrünen, mit Kratzern, Rillen und Tintenflecken bedeckten Linoleum der Schreibtischplatte.
Er gab sich einen Ruck, er wollte jetzt dem Officer gerade in die Augen sehen und ihm alles erklären: dass er weder in Schreibmaschine noch in Stenografie geübt sei, aber vor allem kein Wort des Lieutenants verstanden habe. Er hob den Kopf, doch der Officer schien nachzudenken, er schaute mit gerunzelter Stirn auf die Mappe.
»Schade«, sagte der Officer schließlich, ohne ihn anzusehen und öffnete die Mappe, »ich hätte beide Diktate gern behalten, nur um mich hin und wieder einmal zu amüsieren, schade«, sagte er noch einmal und entnahm der Mappe die beiden Seiten, zerriss sie und warf sie in den Papierkorb.
»Sie sprechen ja Deutsch«, bemerkte Anton nun erstaunt, »dann kann ich Ihnen ja in Deutsch erklären, dass …«
»Nicht nötig«, unterbrach ihn der Officer, nahm aus einem Fach seines Schreibtisches eine englischsprachige Zeitung heraus und faltete sie auseinander. The Times, las Anton. Der Officer begann, darin zu blättern. Das Blättern war für Anton ein Geräusch aus einer weit entfernten Vergangenheit, seit Langem schon hatte er in keiner Zeitung geblättert.
»Schreiben Sie das hier auf Deutsch für deutsche Leser«, sagte der Officer, nachdem er gefunden hatte, was er suchte, faltete die Zeitung zusammen, nahm einen Stift und machte ein Kreuz, »übertragen Sie diesen Artikel möglichst wortgetreu«, er schob Anton die Zeitung über den Schreibtisch hinüber, »der Lieutenant wird Ihnen einen Platz zuweisen. Was ist? Trauen Sie sich das nicht zu?«, fragte er.
Zum ersten Mal begegneten sich ihre Augen, und Anton sah für einen kurzen Moment ein schalkhaft ironisches Lächeln aufblitzen, das ihm vertraut schien.
Während Anton nun im Vorzimmer versuchte, den Artikel aus der Times über die infolge des Krieges miserable Versorgung der englischen Bevölkerung mit Lebensmitteln möglichst wortgetreu für deutsche Leser zu übertragen, trat Officer Simon im Nebenzimmer an das Fenster seines Büros. Und versuchte zu ergründen, weshalb er, Thomas Simon, der in Berlin als Simon Friedländer zur Welt gekommen war, glaubte, ja, sicher war, hier, inmitten dieses Trümmerfelds, das noch menschlich erschien im Vergleich zu dem menschlichen Trümmerfeld, in das sich für ihn dieses Deutschland seit seiner Emigration verwandelt hatte, in Anton Bluhm einer verwandten Seele begegnet zu sein.
Nur eine Woche darauf betrat Anton pünktlich um acht Uhr morgens die englische Kommandantur und setzte sich an seinen Platz in einem Nebenzimmer des Büros von Presseoffizier Thomas Simon. Er sollte nun Artikel aus englischen Zeitungen in Artikel für deutsche Leser übertragen, die dann in einer von den Engländern in deutscher Sprache herausgegebenen Zeitung erscheinen würden.
»Nicht nur übersetzen, wir wollen, dass die Artikel übertragen werden«, ließ ihm Officer Simon durch den Lieutenant, der ihm die englischen Zeitungen mit den angekreuzten Artikeln übergab, ausrichten.
Einen Monat darauf, er hatte die Probezeit bestanden und war eingestellt worden, ließ Officer Simon Anton zu sich kommen. Er erklärte ihm, die Deutschen müssten unter englischer Aufsicht erst einmal lernen, was Pressefreiheit sei. Und sie müssten lernen zu verstehen, was Demokratie sei. Und sie müssten verlernen, Nazis zu sein. Damit am Tag X, wenn alle Nazis verlernt hätten, Nazis zu sein, demokratische Deutsche für demokratische deutsche Leser eine demokratische Zeitung herausbringen könnten. Anton solle die Artikel aus der Times und die aus den anderen englischen Blättern ab sofort nur noch sinngemäß übertragen.
In den nächsten Tagen dachte Anton intensiv über seine neue Aufgabe und über die Ziele von Officer Simon nach, er bemerkte gar nicht, wie ihm an einem dieser Tage auf dem Weg in die Kantine von einem der deutschen Hilfskräfte ein Zettel zugesteckt worden war, er fand ihn erst auf dem Nachhauseweg in der Tasche seines Jacketts. Es stand ein Name
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