Goldmacher (German Edition)
»Mein Kampf« als Geschenk des Führers überreicht bekommen, erinnerte sich Anton. Wie die Bibel stand »Mein Kampf« tatsächlich in fast jedem, aber nicht im elterlichen Haushalt im Regal.
Anton blätterte darin und begann zu lesen, und als er irgendwann in der Nacht aufhörte, weil ihm die Augen zufielen, wusste er, »Mein Kampf«, die Bibel der Bewegung, würde sein Hauptzeuge für den Untergang sein, zumindest an jenem Abend, an dem er für ein Stipendium im Gemeindehaus einen Vortrag halten würde.
Mehrere Nächte rang Anton nun mit seinem Hauptzeugen. Der barbarische Grundton, der ihn aus dem Buch ansprang, machte ihn so wütend, dass er fast »Mein Kampf« gegen die Wand geschleudert hätte, was er im letzten Moment dann doch nicht tat, weil er seinen Hauptzeugen nicht kaputt machen wollte, so knallte er das Buch nur mit Wucht auf den Tisch.
Leni schrak im Bett hoch, sie schlief seit ein paar Nächten bei ihm, zu Hause wache sie morgens mit winzigen Eiskristallen in den Haaren auf, hatte sie geklagt. Jetzt rieb sie sich die Augen: »Komm doch endlich, mir ist kalt«, murmelte sie schlaftrunken.
Es brauchte eine weitere Nacht, bis sich Anton zum Chronisten im thukydideischen Sinne durchringen, bis er, so schwer es ihm auch fiel, die Anklage fallen und leidenschaftslos nur das Dokument sprechen lassen konnte. Er würde seinen Zuhörern das vom Verfasser Adolf Hitler in »Mein Kampf« skizzierte Programm zur Vollbringung eines Wunders, des Wunders vom Tausendjährigen Reich, zitieren und dann aufzeigen, was tatsächlich daraus geworden war.
Ein paar Tage vor seinem Auftritt im Gemeindehaus klingelte Hans-Ulrich an der Haustür, und Anton weihte ihn in sein Vorhaben ein.
»Klingt plausibel«, meinte er nach kurzem Nachdenken und lachte leise, dann musste Anton ihm versprechen, ihn nicht als Lieferanten von »Mein Kampf« preiszugeben. Aber vor allem dürfe er sich das verbotene Buch nicht abnehmen lassen, das würden ihm die Kumpels sonst übelnehmen.
»Was sind denn das für Kumpels?«, wollte Leni wissen.
»Kumpels wie Anton und ich«, antwortete Hans-Ulrich, und der amüsiert spöttische Zug um seinen Mund wurde noch etwas deutlicher. Sie ist ’ne Katze und ich bin ein Hund, erklärte er Anton später, und dass er sich in Zukunft lieber ohne Leni mit ihm treffen würde.
»Was macht der Hauptzeuge?«, wollte Hans-Ulrich am Abend vor seinem Auftritt wissen, »wirst du dich der Gemeinde mit Adolfs Hilfe als das förderungswürdige kleine Genie präsentieren, das du bist?«
Er meinte es nicht ironisch, sondern ernst. Das machte Anton zwar verlegen, doch dass Hans-Ulrich große Stücke auf ihn hielt, stärkte ihn auch.
»Hör es dir doch einfach an«, lud er ihn ein.
»Bin dabei. Um wie viel Uhr geht es los?«
Der Weg war kürzer, als er berechnet hatte, und so betrat er das Gemeindehaus schon knapp eine halbe Stunde vor Veranstaltungsbeginn. Hans-Ulrich, der von sich behauptete, Atheist zu sein, war zum ersten Mal dort, schaute sich um und sah im Aushang eine offensichtlich von Anton handschriftlich verfasste Ankündigung: »Mein Kampf« – Eine Bibelbefragung.
Er wusste gleich, der kleine Saal würde leer bleiben. Er setzte sich in die erste Reihe und behielt recht. Außer Johann und Katharina Bluhm, Judith und dem Gemeindepfarrer, Leni und drei oder vier älteren Paaren erschien niemand. Wetten, dass er trotzdem nicht aufgeben wird, versprach Hans-Ulrich sich selbst, und er sollte recht behalten.
Anton gab nicht auf.
»Ich bin froh, dass ihr da seid«, rief er den wenigen, die gekommen waren, zu.
Und er war es tatsächlich. Dass ihm kaum jemand zuhören wollte, zeigte ihm zwar, wie sinnlos sein Unterfangen war, es spornte ihn jedoch auch an.
Am Ende seines Vortrags, als er nach dem dünn klingenden Applaus der wenigen das schmale Podium verließ, stand Officer Simon plötzlich vor ihm und gratulierte, verabschiedete sich daraufhin aber gleich. Anton sah ihm überrascht hinterher, er hatte ihn nicht unter der Handvoll Zuhörer gesehen, als Judith auf ihn zukam.
»Es war deine Ankündigung, Anton, sie hat alle verprellt! Du musst deinen Vortrag über den Untergang vom Volk der Dichter und Denker wiederholen und auch so nennen, dann kommen mehr Leute, und vor allem werden sie dann verstehen, was passiert ist!«
»Die Verpackung war hundsmiserabel«, kritisierte ihn jetzt auch Hans-Ulrich, »die Ankündigung war abschreckend, sie hätte nun wirklich anziehender sein müssen. Wenn ich dir
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