Goldmarie auf Wolke 7
eine Weile auf meinem Bett, unfähig, mich zu rühren. Gut, dass Julia mich erst am Abend angerufen hatte, sonst wäre ich bestimmt nicht in der Lage gewesen, den Arbeitstag im Laden zu überstehen. Nur noch ein oder zwei Tage bis zu Dylans Rückkehr. Momentan hatte ich noch nicht das Gefühl, dass Julias Versuch, den Zauber der Andreasnacht zu brechen, bereits Wirkung zeigte. Immer noch dachte ich fast ununterbrochen an ihn. Aber ich musste durchhalten und etwas finden, womit ich mich bis Sonntag von meinen düsteren Gedanken ablenken konnte.
Nur was?
Und dann tat ich etwas, was ich nie zuvor für möglich gehalten hätte – ich ging zu Lykke. Meine Stiefschwester saß wie gewohnt am Rechner, antwortete jedoch mit einem erstaunlich fröhlichen Ja, als ich klopfte. »Na, surfst du wieder?«, wollte ich wissen und stellte mich neben sie. Lykke hatte gerade einen Blog aufgerufen und schrieb einen Kommentar zu dem Film Männerherzen und die ganz große Liebe . »Pippas Movieworld ist neben Glimmerfee TV der beste Filmblog, den ich kenne«, schwärmte sie. »Diese Pippa hat echt Ahnung und kann das alles super rüberbringen. Wenn man ihre Kritiken liest, hat man das Gefühl, selbst im Kino gewesen zu sein. Da kann sich so mancher renommierte Filmkritiker echt ’ne Scheibe von abschneiden. Aber egal! Gibt es einen besonderen Grund für deinen Besuch? Hat Dylan dich schon wieder versetzt?« Ich versuchte, so gut es ging, den spitzen Unterton zu ignorieren, und starrte auf den Rechner. Mittlerweile hatte Lykke ihren Facebook-Account aufgerufen und scrollte durch die neuesten Meldungen. »Cool! Ein neues Musikvideo«, freute sie sich und klickte einen Link an, den ihr eine gewisse Hibiskusblüte geschickt hatte. Eine sanft schmeichelnde Stimme erfüllte den Raum und zog mich sofort in ihren Bann. »Der sieht ein bisschen aus wie Orlando Bloom, findest du nicht?«, murmelte Lykke und ging dann auf Vollbildmodus.
»Aber das ist doch Dylan!«, kreischten wir beide eine Sekunde später los. Ich sah fassungslos zu, wie sich genau der Typ, in den ich immer noch rettungslos verliebt war, mit einer Selbstverständlichkeit auf der Bühne bewegte, sang und dazu Gitarre spielte, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan. »Diese Band ist ja echt krass. Muss ich sofort mal googeln«, murmelte Lykke, als der Song zu Ende war. »Aha, da haben wir es. Die Band heißt Red Apples und Dylan ist der Frontman. Bis jetzt haben sie noch keinen Plattenvertrag, sind aber mit einer halben Million Abonnenten ganz vorne auf YouTube. Sogar Rea Garvey hat ein »Gefällt mir« auf ihre Facebook-Seite gesetzt.«
»Darf ich mich mal kurz auf dein Bett setzen?«, flüsterte ich und versuchte, das Sausen in meinen Ohren und Schwindelgefühl in meinem Kopf zu ignorieren, die mich schon wieder erfassten. »Sag bloß, du wusstest das nicht?«, fragte Lykke und drehte sich verwundert zu mir um. »Okay, du wusstest es nicht«, stellte sie mit Blick auf mein garantiert kalkweißes Gesicht fest. »Und jetzt kriegst du die Krise, weil du an deinen Vater denken musst, stimmt’s?« Ich hatte keine Kraft zu antworten und konnte nur noch nicken. Diese Information traf mich wie ein Faustschlag und drohte, mir den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Dylan hatte mich angelogen. Er war Musiker, und das offenbar auch noch sehr erfolgreich! Mit einem Mal bekam Odelias Aussage Dylan sei wohl bei Aufnahmen festgehalten worden, als er zu spät zum Geburtstag kam, eine vollkommen neue Bedeutung. Ich war ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass es sich dabei um Foto aufnahmen gehandelt haben musste. Jetzt wurde mir jedoch klar, dass Dylan stattdessen in einem Studio gewesen sein musste, vielleicht um genau dieses Video aufzuzeichnen, das ich gerade gesehen hatte. Aber warum hatte er mir denn nichts davon gesagt? Konnte ich ihm denn überhaupt noch vertrauen? Was hatte er mir noch alles verschwiegen und stimmte überhaupt ein Wort von dem, was er mir bis jetzt erzählt hatte?
46. Marie Goldt
(Dienstag, 20. Dezember 2011)
»Kikeriki, die goldene Jungfrau ist wieder hie!« Piet Klocke, alias Dr. Willibald Hahn, spielte mit seiner Fliege herum, deren dunkelblauer Seidenstoff mit weißen Punkten übersät war. »Und dieser Ire hat sich wirklich nicht mehr bei dir gemeldet?«, fragte er nun schon zum zweiten Mal und seufzte abgrundtief. Ich schüttelte den Kopf. Dylan hatte nicht angerufen und ich würde den Teufel tun, es bei ihm zu versuchen, nach all dem,
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