Goldmond
klar erblickt.
»Sie ist schwach«, stellte Ronan fest. Er wollte – und durfte – die Dari nicht stören. Es tat nicht gut, eine Seele einfach so aus den Nebeln wieder in den Körper zu zerren. Er besaß zwar die Fähigkeit, dies aufzufangen, doch es würde ihr nicht gutgehen. Ronan konnte nicht riskieren, die Königin – und den General, der ihn nicht aus den Augen ließ – zu verärgern.
Iram Landarias warf ihm einen halb prüfenden, halb anerkennenden Blick zu. »Das siehst du?«
»Wie Ihr sicher ahnt, bin ich Seelenherr«, sagte Ronan.
Der Halbelb runzelte die Stirn. »Du bist mutig, dies im Zelt der Herrin aller Elben und inmitten ihres Heerlagers zuzugeben!«
Ronan verzog das Gesicht. »Nicht mutiger als Ihr und Eure Schwester«, sagte er. »Ihr wisst, was sie hier tut?«
»Natürlich!«, zischte Iram. »Ich bin der Halbbruder der Königin und habe ihr Vertrauen. Niemand sonst betreut sie so gut wie ich, wenn sie in die Nebel geht. Es ist eine Fähigkeit, mit der reinblütige Elben nicht umzugehen wissen.«
»Wie lange sitzt sie schon dort, Daron Iram?«, fragte Ronan.
»Seit die Sonnen den Zenit erreicht haben«, erwiderte Iram nach einer Pause. »Man rief mich vor einem Zehntag aus Sirakand zurück. Du hast sicher gehört, dass die Stadt belagert wird. Doch meine Schwester braucht mich dringender.« Es sah für einen Augenblick so aus, als wollte er noch etwas hinzufügen, doch er hielt inne und sprach nicht weiter.
»Sie ist schon sehr lange in den Nebeln«, murmelte Ronan. »Das ist gefährlich.«
Er dachte nach. Er war Mensch – und diese dort die Herrin des Volkes, das die Kinder des Dunkelmonds unterdrückte und misshandelte. Ihr schwacher Gesang deutete darauf hin, dass sie sich überanstrengte, und ihr Gefährte hatte gesagt, sie sei schon lange fort. Es kam zuweilen vor, dass Seelenherren, die zu lange in der Leere wanderten, nicht mehr den Weg zurückfanden.
Es wäre einfach gewesen, sie ihrem Schicksal zu überlassen, doch nach kurzem Ringen mit sich hatte Ronan sich entschlossen. »Ich werde sie holen«, sagte er leise und wollte es sich gerade auf einem der vielen Kissen bequem machen, die neben dem Eingang gestapelt waren, als eine Hand an seine Kehle fuhr. Finger gruben sich in die weiche Haut unterhalb der Kiefer und zerrten ihn erbarmungslos wieder hoch. Ronan rang nach Luft.
»Wenn sie nicht bis zum Untergang der Roten Sonne wieder hier ist mit dir, dann werden die Sklaven darunter zu leiden haben. Hast du das verstanden, Spielmann?«
Ronan nickte und rieb sich, nachdem Iram ihn losgelassenhatte, die Druckstellen am Hals. »Ich habe nichts anderes von Euch erwartet, General«, sagte er aufgebracht.
Nach einem ärgerlichen Blick auf den Elb nahm er sich von einem Tablett, das neben ihm stand, einen Becher Wein. Er schmeckte seltsam, als habe man den leichten Wein, den die Elben zu trinken pflegten, mit Honig und Spezereien versetzt – scharf, bitter und doch süßlich. Iram starrte böse zu ihm herab, doch Ronan schloss die Augen und stimmte in das Lied der Königin ein, das so leise durch das Zelt zog, dass Ronan plötzlich nicht mehr wusste, ob es in der wirklichen Welt oder nur noch in der Leere erklang.
Er verdrängte die Furcht, die sich in der elbischen Umgebung in ihm eingenistet hatte und die sich nun angesichts der Drohung des Halbelben noch verstärkte. Er musste die geschaffene Welt bei vollem Bewusstsein verlassen. Wenn Ireti so tief in den Nebeln war, wie er vermutete, würde sie nicht leicht zu finden sein.
Bisher waren die Nebel immer eine Ebene gewesen, vor der Ronans Gemüt erschauerte. Eine weite, endlose Fläche, die bis in eine unbestimmte Ferne reichte, der Himmel über ihm ohne Gestirne, kein Baum, kein Strauch, kein Fels, der eine Landmarke hätte sein können. Der Boden war ohne bestimmbare Beschaffenheit, die Luft ohne Geruch; selbst der Horizont war so fern, dass er nie näherzurücken schien. Er definierte sich nur daraus, dass dort ein silberner Lichtstreifen auf einen purpurfarbenen traf.
Doch diesmal war die Leere anders.
Wahrscheinlich war es nur folgerichtig, dass hier, in der Nähe von Syths Heiligtum, auch die Jenseitige Ebene nicht allem beraubt war, was die geschaffene Welt ausmachte. Ys hatte geglaubt, sie habe ihren Geliebten ins Leere gebannt und ihm damit alles genommen. Doch angesichts der Schönheit, die Ronan nun umgab, begann er zu glauben, dass es sich anders verhielt, als die Sagen berichteten. Syth war ein Geist der
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