Goldmond
Seele greife, immer, wenn ich es erfassen will, kommt auch frischer Wind in mir auf.«
Sie hielt inne und schluckte, als sie daran dachte, wie der kalte Sturm, der so stark nach Yondarharz duftete, sie aufnahm, die Flammen, die sie in die Leere tragen sollten, schürte und ihr zeigte, wie wundervoll Weite und Grenzenlosigkeit sein konnten.
»So hindert dich der Sturm daran, in die Leere der Jenseitigen Ebene zu gehen?«, wollte er dann wissen.
»Nein«, sagte Sanara leise. »Das ist das Schlimme, das tut er nicht.«
Sie suchte nach Worten. »Der Sturm ist es, der mich schützt, der mich trägt. Erst in den Himmel, dann weiter in die Leere zwischen den Sternen, die jenseits des Himmels leuchten. – Einmal gelang es mir, in die Nebel zu gehen, ohne den Sturm zu Hilfe zu nehmen, doch ich habe mich verirrt. Ich bekam solche Angst vor den Abbildern der Toten, dass ich das Lied nicht mehr singen konnte, das mich wieder in diese Welt bringen soll. Ich traf auf …« Sie stockte, setzte neu an. »Ich traf auf Nebelgeister, die mir Lügen zuflüsterten. Die Mutlosigkeit und die Trauer derjenigen, die dort hausen und denen niemand den Weg zu ihrem Schöpfer zeigen kann, erfasste mich.«
»Und mit dem Wind in dir hast du diese Angst nicht mehr?«
»Der Sturm vertreibt die Geister«, sagte sie nach einer Pause. »Er hält mich fest und zeigt mir die Freiheit und Schönheit der Unendlichkeit. Dort ist man frei, dort ist nichts, was den Verstandoder die Seele fesselt! Es gibt keine Grenzen dort, der Wind erfüllt meine Sehnsucht. Ich habe keinen Wunsch mehr. Nur den, dass mich der Sturm nie mehr loslässt.« Sie seufzte und fügte leise hinzu: »Denn nur dort bin ich eins mit ihm.«
Sie lauschte ihren Worten nach und fragte sich, ob es klug gewesen war, sie laut auszusprechen.
Der Älteste beugte sich vor. »Eins mit ihm?«
»Das ist die Wahrheit«, gab Sanara trotzig zurück. Sollte der Älteste sie doch dafür verurteilen. »Wie also kann ich das Siegel bergen? Ich habe nicht einmal die Macht, den Sturm in mir zu bannen und meine ganze Kraft darauf zu konzentrieren, in den Nebeln das Siegel zu suchen. Ich frage mich oft, ob die Leere zwischen den Sternen überhaupt die Leere des Jenseits ist. Vielleicht ist es ein anderer Ort.«
»Du kannst diese Kraft also nicht bannen. Ronan sagte mir, dass selbst das Lied der Toten die Kraft des Fürsten von Norad in dir nicht abtöten konnte.«
Sanara schauderte beim Gedanken daran, wie grausam das alte Schlachtlied gewesen war, das Ronan beim Angriff auf den Grünen Turm gespielt hatte. Es stammte von Syth selbst, dem uralten Schöpfergeist der Zerstörung. Es vernichtete alle Magie, die von Vanar kam, und es hätte sie, eine reinblütige Feuermagierin, traurig stimmen müssen, ja, aber es hatte auf sie gewirkt, als sei sie eine Halbelbin: Der Tod hatte Form angenommen, war wie Regen aus Blut und Asche auf sie herabgefallen und hatte nicht nur ihre Haut benetzt, sondern war tief in ihre Seele gedrungen.
Sie dachte an die Zeit zurück, in der kein Wind mehr in ihr zu spüren gewesen war. Nur Leere. Doch der Wind war wiedergekommen und hatte die tödliche, erstickende Asche fortgeweht. Und jetzt war sie freier und mächtiger als je zuvor.
Als sie den Weisen erneut ansah, war sie sicher. Egal, was dieser sagte, egal, was geschehen würde, sie würde auf den Sturm in sich nicht mehr verzichten.
Sie hob den Kopf und sah den Abt freimütig an.
Der Älteste erwiderte den Blick.
»Ich gestehe, dass ich zunächst meine Zweifel hatte, ob deine Magie ausreicht, das Siegel zu finden. Doch das, was du mir sagst, bestärkt mich, es zu glauben. Du und keine andere wird das Siegel finden können!«
Überrascht sah Sanara auf. »Aber das ergibt doch keinen Sinn!«
Dann schluckte sie, weil sie dem Ältesten Respekt und Höflichkeit schuldete.
In diesem Augenblick hörte Sanara, wie schnelle Schritte die Treppe heraufeilten, die in das Gemach des Ältesten führte. Sie kamen näher, dann war der Shisan heran, der die Tür bewachte und sie vorgelassen hatte. Jemand anderer folgte ihm, ebenfalls Shisan, doch eine Frau. Eine, von der Sanara wusste, dass sie zu denen gehörte, die die Grenzen des Landes bewachten.
Die Wache und die Frau knieten vor dem Ältesten der Weisen nieder. Erst wunderte Sanara sich über die Unterbrechung, doch dann wurde ihr klar, dass die Botschaft, die die Shisans brachten, wohl von großer Wichtigkeit war. Es spielte keine Rolle, ob sich eine kleine und unwichtige
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