Goldmond
»Das Siegel«, sagte er dann nachdenklich. »Wozu wollt Ihr das Siegel der Welt bergen? Ihr habt Euch Vyranar fast völlig unterworfen, ohne es zu besitzen!«
Ys war es, die das Siegel schuf. Es hält ihren Geliebten Syth in der Leere fest, in die sie ihn verbannte, denn er provozierte Krieg um Krieg. Er schürte den Streit zwischen seinen Söhnen Vanar und Akusu, er brachte die Menschen dazu, sich gegen die Elben zu wenden, brachte die Erde dazu, die Wälder und Flüsse zu verschlingen. Die Herzen derer, die zu Akusus Volk gehören, sind aus Stein, ihre Seelen aus Feuer – den Elben blieb nichts anderes übrig, als diese zerstörerischen Kräfte einzudämmen, nicht selbst davon zerstört zu werden. Das Volk des Goldmonds musste die Welt befrieden.
»Befrieden!«, stieß Ronan hervor. »Ihr und König Tarind habt mein Volk versklavt, nennt Ihr das Frieden?«
Was hätten wir tun können? Es waren die drei höchsten Fürsten der Menschen, die sich gegen die Elben und die Gabe des Lebens verschworen. Doch wenn das Siegel wieder in der Welt wäre, könnte es Frieden geben.
»Wenn es nur darauf ankommt, könnte es Euch doch gleich sein, wer es birgt.«
Der Geist senkte den Kopf. Die langen Haare fielen ihm wie ein Vorhang vor die Augen, und für einen Augenblick kam es Ronan so vor, als verschwände die Erscheinung erneut in den Schatten. Doch schließlich entschloss der Geist sich zu einer Antwort, und obwohl er sie nur in seinen Gedanken vernahm, klangen die Worte für Ronan mutlos.
Ich hatte gehofft, dass du von allein erkennst, was geschehen muss. Denn dass du, ein Mensch, mir nicht glauben wirst, wusste ich. Das Siegel muss wieder in die Welt, doch es darf nicht den Falschen in die Hände geraten.
»Wer ist Eurer Ansicht nach der Falsche?«, sagte Ronan nach einer langen Pause. »Ein Mensch?«
Der Geist hob den Kopf.
Erkennst du denn nicht von allein, wer falsch wäre? Siehst du nicht jeden Tag selbst, wer dein Feind ist? Das bin nicht ich. Nicht Tarind. Es ist ein anderer. Ein Elb.
Der Geist Iretis machte eine fließende Bewegung mit der Hand. Der hauchfeine Nebel, aus dem ihr Gewand zu bestehen schien, wehte so hastig durch den Schatten der Nische, dass es sich aufzulösen schien. Es dauerte einige Wimpernschläge, bis der Nebel sich wieder so verdichtete, dass der Eindruck von feiner Seide entstand, die von den Handgelenken aus Rauch herabhing.
Ronan schwieg. Die Königin deutete eine Tatsache an, die er in den letzten Zehntagen mehr als einmal bitter zur Kenntnis hatte nehmen müssen. Tarind hatte die Menschen versklavt. Er verachtete sie. Doch sein Zwilling Telarion, der Heiler, hasste sie. In seinem Hass war er grausamer als alles, was Tarind je hatte tun können, skrupelloser als sein Bruder. Ronan konnte das jeden Tag an Sanaras Seele sehen.
Der violett glimmende Geist nickte angesichts Ronans Schweigsamkeit düster.
Du glaubst, du kennst die Rücksichtslosigkeit, mit der Telarion Norandar durchsetzt, was er haben will. Doch ich sage dir, die übelste Tat, die er beging, kennst du noch nicht. Er tötete seinen Bruder. Meinen Gemahl, den Geliebten meiner Seele. Der Geist unterbrach sich. Ein Schluchzen erklang, so leise, als wehe es aus der Jenseitigen Ebene an Ronans Ohr. Ja, Tarind ist tot! Er starb, weil er entdeckte, dass sein Zwilling die Magie der Siwanonstochter in sich trug. Mein Gemahl starb in meinen Armen. Er starb von der Hand Telarions, denn Tarind drohte, den Elben zu offenbaren, dass sein Zwilling, den er liebte, seine Seele mit einer Dunkelmagierin verbunden hatte. Telarion leugnet weder das eine noch das andere, aber glaubst du, einer wie er begeht seine Taten aus Liebe? Er sagt das. Und vielleicht ist eine Schankdirne naiv genug, ihm zu glauben. Doch ein Meister der Seelenmagie, wie du einer bist, sollte es besser wissen.
Der Geist trat einen Schritt auf Ronan zu, aus dem Schatten heraus. Seine violetten Augen glühten heller als je zuvor.
Der Fürst von Norad ist ein Lügner. Er behauptet, er sei Heiler, doch wie könnte ein Heiler sich je bereit erklären, seinem Bruder ein Kriegsherr zu sein? Nein. Telarion Norandar will das Siegel für sich selbst und glaubt wie du, dass nur Sanara Amadian es bergen kann. Deshalb hat er ihre Seele vergiftet und gibt sie nicht wieder frei.
Ronan erstarrte. Das klang plausibel. Schlimmer noch. Es war, als habe die Nebelgestalt der Königin das in Worte gefasst, was Ronan selbst bereits glaubte und sich nicht hatte eingestehen wollen: Der
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