Goldrausch in Bozen - Kriminalroman
Solche Stimmungen hatten sie beide geliebt. Er würde das nie wieder mit
ihr teilen können. Tränen rannen ihr über die Wangen. All das wegen eines
einzigen Ausrutschers.
Auf einem Kongress hatte er zu viel getrunken und war dem Charme
einer Studentin erlegen. Er hätte es ihr sagen können, sie hätte es ihm
verziehen. Sie liebte ihn viel zu sehr, um ihn wegen so etwas zu verlassen.
Aber er hatte Angst gehabt und sich zutiefst geschämt. Irgendjemand hatte zudem
seinen Fehltritt mitbekommen, »Beweisfotos« geschossen und ihn damit erpresst.
Sie wusste bis heute nicht, worum es gegangen war, jedenfalls nicht allein um
Geld. Das hatte sie seinem Abschiedsbrief entnommen, der vor ihm auf dem ovalen
Glastisch gelegen hatte.
Sie würde diesen Anblick und dieses Gefühl niemals vergessen. Helmut
hatte keine äußerlichen Verletzungen, er sah aus, als würde er schlafen. Halb
sitzend, halb liegend, den Kopf auf der Brust. So hatte er immer ausgesehen,
wenn er beim Fernsehen eingenickt war. Als sie ihn berührte, wusste sie, dass
er nicht schlief. Er hatte sich mit Tabletten das Leben genommen. Auf dem Tisch
stand eine leere Cognacflasche, damit hatte er seine Angst betäubt.
Die Polizei fand nie heraus, wer der Erpresser war. Aber er hatte
bei Helmut kaltblütig die richtigen Knöpfe gedrückt. Vermutlich hatte er nicht
nur damit gedroht, sie zu informieren, sondern auch den Ausschuss.
Das alles war nun ein Jahr her. An keinem Ort war sie seitdem
häufiger gewesen als an Helmuts Grab. Doch das Gefühl von Trauer und
Verzweiflung, aber auch der unbändige, gefräßige Hass auf den Erpresser wurden
nicht schwächer. Sie spürte es jeden Tag wie am ersten.
Langsam ging sie den Weg zurück, vorbei an den anderen Gräbern, in
denen andere Menschen mit anderen Schicksalen lagen. Sie wischte sich mit dem
Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. Als sie aus dem Wald auf den Parkplatz
trat, blies ihr eine kalte Windböe aus Nordwesten entgegen. Es würde nicht mehr
lange dauern, bis der Regen kam.
1
Südtirol, Ahrntal, Samstag, 6. Juni 2009
Obwohl Vincenzo Bellini es besser wusste, konnte er nicht
anders. Immer wieder musste er hinunterblicken in die scheinbar unendliche
Tiefe. In manchen Momenten spürte er überdeutlich das Verlangen, einfach nur
loszulassen, angezogen von ihrem mächtigen, unentrinnbaren Sog.
Er war in aller Frühe aufgestanden, hatte seinen Rucksack gepackt
und war losgefahren. Allein von Bozen bis nach Sankt Johann hatte er mit seinem
Alfa eine gute Stunde gebraucht, zum Glück brach das Verkehrschaos im Pustertal
erst viel später aus. Gegen sechs hatte er seine Tour begonnen. Am Anfang war
der Weg technisch anspruchslos, aber lang und steil. Über das kleine Sträßchen
bis zum Stalliler, dann weiter über den Hauptwanderweg mit der Nummer 23.
Allein auf diesem Stück hatte er über sechzehnhundert Höhenmeter überwunden. Ihm
war bewusst, dass das schon eine beachtliche konditionelle Leistung war. Zumal
er mehr als zehn Kilogramm auf dem Rücken trug.
Das Schwierigste lag zu diesem Zeitpunkt aber noch vor ihm. Gegen
zehn war er in den Klettersteig eingestiegen, um zwölf waren sie auf der
Schwarzensteinhütte verabredet. Seit seiner Kindheit war er zu jeder Jahreszeit
in den Bergen. Er liebte sie, sie waren seine Heimat. Aber fürs Klettern hatte
er sich nie erwärmen können. Bis er Hans kennenlernte.
Hans Valentin war Bergführer und Inhaber einer Alpinschule in Sand
in Taufers. Er war Anfang fünfzig und hatte im Laufe seiner Bergsteigerkarriere
die meisten Achttausender bestiegen, einige zusammen mit Reinhold Messner. Die
Berge und die Herausforderungen des Extremkletterns waren sein Leben. Selbst
vor den brutalsten Touren, die für gewöhnliche Bergsteiger unerreichbar waren,
schreckte er nicht zurück. Er hatte das Matterhorn innerhalb von nur
vierundzwanzig Stunden viermal bestiegen, jedes Mal auf einer anderen Route. Je
mehr er Hans zugehört hatte, umso mehr wollte er ihm nacheifern, hinauf in
schwindelerregende Höhen, auf immer schwierigeren Routen. Auf einmal hatte ihn
der Ehrgeiz gepackt.
Und was hatte er jetzt davon? Mutterseelenallein hing er in dieser
verdammten Wand. Blanker Fels, so weit das Auge reichte. Als er am Fuß des
Steigs die Klettersteigausrüstung angelegt hatte und nach oben schaute, hatte
er sich nicht vorstellen können, diese Wand jemals zu durchqueren. Trotzdem war
er losgegangen. Er wollte sich vor Hans
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