Goldrausch in Bozen - Kriminalroman
Deshalb fühlte Vincenzo sich in
seiner Gegenwart sicher.
Sie hatten sich vor einigen Jahren bei einem Vortrag über Hans’
Expeditionen in den Himalaya kennengelernt. Seitdem trafen sie sich
gelegentlich, wenn Hans nicht gerade wieder irgendeinen Achttausender bestieg,
um zusammen eine Tour zu machen. Heute wollten sie den Schwarzenstein
besteigen, fast dreitausendvierhundert Meter hoch. Mein Gott, was hatte er
getönt: »Hans, plan mal was Anspruchsvolleres, einen Klettersteig, gerne mit
größeren Höhenunterschieden! Ich möchte meine Grenzen kennenlernen.«
Jetzt lernte er sie kennen. Und wie! Es war totenstill. Außer ihm
war an diesem Vormittag niemand in der Wand, keine Stimmen, nichts. Niemand,
der ihm sagte: Du schaffst das schon . Selbst die
Krähen, die es in dieser Höhe gewöhnlich zuhauf gab, schienen vor der schwülen
Hitze zu kapitulieren. Er fühlte sich einsam, verlassen und ausgeliefert. Aber
es half alles nichts, er musste weiter. Vincenzo sah an der Wand entlang. Nach
Hans’ Beschreibung müsste es danach einfacher werden. Noch eine senkrechte
Leiter, dann sollte er den Zugang zur Hütte erreichen, wo Hans, der dort
übernachtet hatte, bestimmt schon ungeduldig auf ihn wartete.
Er atmete ein paarmal tief durch, dann klinkte er den ersten
Karabinerhaken ein. Misstrauisch trat er auf den ersten Eisenstift, der nicht
den Eindruck erweckte, einen ausgewachsenen Mann von einem Meter fünfundachtzig
und neunzig Kilogramm tragen zu können.
Doch der Stift hielt! Er zog den anderen Fuß nach und trat auf den
nächsten Stift. Durch den Überhang wurde sein ganzer Körper wie von einer
fremden Macht nach hinten gedrückt, in die Tiefe. Der Rucksack auf seinem
Rücken tat ein Übriges, die zehn Kilogramm kamen ihm vor wie hundert. Mit aller
Kraft musste er sich am Drahtseil an die Wand ziehen, damit sich sein
Schwerpunkt nicht bedrohlich in Richtung Abgrund verlagerte. Die Muskeln seiner
Unterarme waren bretthart, und trotz all seiner Klimmzüge und Liegestützen
fürchtete er, die Kraft in den Händen zu verlieren.
Jetzt erst kam die größte Herausforderung. Auf einem einzigen Nagel
stehend, das andere Bein frei in der Luft, musste er seine Karabinerhaken
irgendwie um die nächste Öse bringen. Mit zitternder Hand löste er den ersten
Karabiner vom Drahtseil und führte ihn, balancierend wie ein Hochseilartist, an
der Öse vorbei. Dabei zog er sich mit der freien Hand mit aller Kraft zur Wand,
um nicht nach hinten wegzukippen. Er hatte das Gefühl, als könnte sein Unterarm
jeden Moment platzen. Unter dem Steinschlaghelm lief ihm der Schweiß in die
Augen, die sofort zu brennen anfingen. Für einen Moment glaubte er, das
Gleichgewicht zu verlieren. Nur mit angehaltenem Atem und höchster
Konzentration gelang es ihm, den Karabinerhaken wieder einzuklinken.
Erleichtert trat er mit dem freien Fuß auf den nächsten Nagel. Jetzt
noch zweimal die Karabiner umklinken, dann hatte er das Schlimmste hinter sich.
Wenig später erklomm er die fünfzig Meter lange senkrechte Leiter, vor der ihm
vor seinem Aufbruch noch so gegraut hatte. Jetzt erschien sie ihm merkwürdig
harmlos. Er erreichte den ebenen Pfad zur Hütte, die wenig später vor ihm
auftauchte. Er hatte es geschafft!
* * *
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