Goldrausch in Bozen - Kriminalroman
Jahren in den Keller gefallen. 1910 schloss man die Minen, »nachdem der reiche Fenillaz-Gang zu ungefähr zwei Dritteln abgebaut worden war.«
Aber was bedeutete »zu zwei Dritteln«? Wenn es sich tatsächlich so verhielt, musste noch viel Gold in den Quarzgängen stecken. Ich rechnete: Es mussten mehr als vierhundert Kilogramm Gold sein. Mit diesen Gedanken und vielen anderen Träumen und Hirngespinsten tasteten wir uns durch die Gänge. Wir schritten Meter für Meter ab, dann standen wir an dem Punkt, wo einst, im fernen Jahr 1908, unglaubliche achtundsechzig Kilogramm reines Gold gefunden worden waren. Wir stellten uns die Menge vor, den Jubel der Bergarbeiter, die trotz des Fundes keinen Cent mehr Lohn bekamen. Und denen es schlussendlich auch egal war, wie dieses Gold hierhergekommen oder wie es entstanden war.
Die Erdkruste enthält pro Tonne Gestein durchschnittlich einige Milligramm Gold, doch hier gab es eine zehnmillionenfache Anreicherung. Mario und Lino Pallaoro, die beiden Zwillinge, suchten mit dem Detektor Meter um Meter ab.
»Mehr als vierhundert Kilo reines Gold müssen hier auf engstem Raum verborgen liegen.« Damit dürfte es sich nicht um die sprichwörtliche Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen handeln. Hier standen die Chancen auf Gold so gut wie nirgendwo sonst in den Alpen. Dann summte das Gerät zum ersten Mal. Überraschend wies es auf das Geröll der Halde, neben der wir gerade standen. Wie konnte das möglich sein? Bergarbeiter mussten diesen Stollenteil einst heruntergesprengt, aber nicht ausgeräumt haben. Wie im Fieber warfen wir das Steinwerk die im Berginnern steil abfallende Halde hinunter. Die matt leuchtenden Stirnlampen waren wie Sterne im Dunkel. Es war zu wenig Licht, um sehen zu können, doch der Detektor wies unbeirrbar zum Gold.
Ich hielt ein erstes schweres, schon von der Natur auskristallisiertes Goldstück, das zur Gänze mit Bergkristallen verwachsen war, in der Hand. Wir starrten es an wie ein Weltwunder, auch wenn wir in der Fastdunkelheit die wahre Pracht nicht einmal erahnen konnten. Die Schatzkarte des Dr. Reinhold hatte also nicht gelogen. Selbst der stets schweigsame Federico Morelli begann, Gefühle zu zeigen, und wurde gesprächiger.
»Im Leben ist alles relativ«, presste Federico zugeknöpft hervor, und er hatte recht. Wäre Gold so häufig wie Kieselstein, würden wir es liegen lassen. Aber dem ist natürlich nicht so, und die Speranza übertraf all unsere Hoffnungen. Überall um uns herum lag plötzlich Gold, das wir nicht einmal mühsam aus dem Felsen herausarbeiten mussten. Stück über Stück türmten wir es auf. Kilos von wunderbar geformten Bergkristallen, die wir sonst selbst in kleiner Größe von den Gipfeln der Alpen herunterschleppten, warfen wir die Halde hinunter. Hier waren sie wertlos. Hier war Besseres, Größeres zu finden.
Fünfhundert Bergleute hatten hier für die englische Gesellschaft einst sieben Zugangsstollen gebohrt. »Livelli«, so nannten sie diese. Dazwischen hatten sie die Felsen ausgehöhlt und die bis zu zwei Meter dicke Quarzader abgebaut. Noch heute ziehen sich die Gänge zweitausendfünfhundert Meter in das Innere des Berges. Während des Faschismus und der damit ausgelösten Wirtschaftssanktionen flackerte der Bergbaubetrieb durch das Unternehmen Giuseppe Rivetti kurz wieder auf, bevor er bald wieder zum Stillstand kam.
Die Zwillinge Pallaoro trieben uns unermüdlich weiter. Die Batterien unserer Lampen neigten sich dem Ende zu, doch wir hatten Gold gefunden. Viel Gold sogar. Als wir an diesem Tag die Stollen verließen, herrschte draußen bereits Dunkelheit. Die Menschen der Val d’Ayas sind freundliche und herzliche Leute. Man berichtete uns von einem Herren Squindo, der in der Speranza auf dem »livello 4« fünfzehn Kilogramm reines Gold gefunden hätte. Doch nirgendwo liegen Lüge und Wahrheit so eng beieinander wie beim Gold.
Am nächsten Tag waren wir zurück im Bergwerk. Schon als wir hineinkrochen, waren wir vollkommen verdreckt, aber das berührte uns kaum. Draußen war es heiß, drinnen feuchtkühl. Ich konnte mich noch immer nicht in den Gängen orientieren. Überall sahen wir Spuren. Wir waren ganz sicher nicht die Einzigen in den letzten Jahrzehnten gewesen, die hier an den großen Fund geglaubt hatten. Doch wer hatte hier was gefunden? Meistens halten die Glücklichen so lange ihr Wissen geheim, bis das Glück ein Ende hat. Der Zahn der Zeit ließ langsam die dicken Holzstämme verrotten, die
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