Goldrausch in Bozen - Kriminalroman
abzuholen. Die Sonne schien, es war warm, selbst auf Höhe des Gardasees schon fünfundzwanzig Grad am frühen Vormittag. All seine Gedanken kreisten um Gianna. Wie aufgeregt er war! So als würden sie zum ersten Mal zusammen ausgehen. Vielleicht hätten sie nach diesem langen Wochenende ihre Krise und die Geister der Vergangenheit endgültig überwunden.
Kurz vor Mailand erreichte ihn zudem ein Anruf aus der Questura. Er hatte Marzoli gebeten, ihn zu informieren, falls es Neuigkeiten in Sachen Baroncini gab. Und tatsächlich, Patricello hatte die interne Untersuchung gegen den Vice-Questore eingestellt, womit diesem ein hässlicher Fleck auf seiner blütenweißen Weste erspart blieb. Noch ein Grund für gute Stimmung.
Doch als er Gianna abholte, begrüßte sie ihn unterkühlt. Nicht mehr als der obligatorische freundschaftliche Kuss auf die Wange. Auf der Fahrt nach Vernazza hatten sie kaum geredet. Die Stimmung änderte sich erst, als sie abends bei ihrem Lieblingsitaliener saßen und die zweite Flasche Amarone bestellten. Der Alkohol löste Giannas Anspannung, von der Vincenzo nicht wusste, ob sie ihre Ursache in ihren Erlebnissen oder in ihrer Rolle ihm gegenüber hatte, in die sie sich selbst hineinmanövriert hatte. Jedenfalls hatte er sich vorgenommen, sie nicht von sich aus darauf anzusprechen. Er musste ihr zuhören, ihr die Zeit geben, die sie benötigte. Und er hielt sich an seinen Vorsatz.
Sein Plan ging auf. Nachdem sie zunächst über Belanglosigkeiten geredet hatten, fing Gianna an zu schildern, wie der Mann sie damals entführt hatte, was für ein Gefühl es gewesen war, allein in einer Eishölle aufzuwachen, wie sich ihre Angst vor dem Kidnapper in den vielen Begegnungen zu einem Gefühl von Vertrauen, Geborgenheit, ja sogar Zuneigung gewandelt hatte. Und wie parallel dazu eine magische Macht ihre Gefühle für Vincenzo abkühlen ließ.
Obwohl sie bei ihren Erzählungen darauf achtete, eher neutrale Worte zu wählen, war Vincenzo verletzt, als sie offen eingestand, dass ihre Gefühle für ihn phasenweise völlig verschwunden waren. Jeder seiner Versuche, sich ihr zu nähern, hatte diesen Zustand noch verschlimmert. Erst sein verändertes Verhalten nach seiner Begegnung mit Lorenzo di Angelo in Giannas Wohnung hatte bei ihr einen gegenläufigen Prozess in Gang gesetzt.
»Als du mir die kalte Schulter gezeigt hast, nicht auf meine Nachrichten reagiert hast, ist mir bewusst geworden, dass du nicht immer da bist, sondern plötzlich aus meinem Leben verschwinden könntest. Ich habe dich wie eine Selbstverständlichkeit hingenommen. Ich kann es mir zwar nicht erklären, aber dein einfühlsames Verhalten hat mich rasend gemacht, obwohl ich dich doch eigentlich genau dafür liebe. Der Therapeut hatte eine ziemlich komplizierte Erklärung für dieses Phänomen. Er meinte, dass ich deine Einfühlsamkeit unbewusst als schlechtes Gewissen gedeutet habe. So als wärest du schuld an meinen Erlebnissen und wüsstest das genau. Verrückt, oder?«
Das war in der Tat verrückt, erklärte aber viel. Danach genossen sie das Essen und den Wein, der Giannas Stimmung weiter lockerte, sodass sie im Hotelzimmer das erste Mal seit dem vergangenen Oktober miteinander schliefen. Vorsichtig und schüchtern waren sie sich nähergekommen. Keiner wusste vom anderen, ja nicht einmal von sich selbst, wie er sich verhalten würde. Es hatte mit einer zarten Umarmung begonnen. Gianna hatte Tränen in den Augen, als sie Vincenzos Kopf in beide Hände nahm, ihm in die Augen blickte und zu ihm sagte: »Mein schöner Kommissar.« Sie hatten sich lange und intensiv geküsst, ehe sie zusammen ins Bett gingen. Es war, als lernten sie sich neu kennen. Für die Leidenschaft, das heftige Verlangen, das sie früher wie Magnete angezogen hatte, war es noch zu früh. An diesem Wochenende blieb es bei dem einen Mal, doch der erste, entscheidende Schritt war getan.
An den folgenden Tagen unternahmen sie lange Spaziergänge am Strand, gingen in Bars, tranken Weißwein und versuchten, unbekümmert zu sein, was ihnen phasenweise sogar gelang. Doch manchmal entstand wie aus dem Nichts eine Mauer zwischen ihnen, sie kam von selbst, fiel aber auch von selbst in sich zusammen. Dann küssten sie sich wieder und gingen Hand in Hand. Aber Vincenzo wusste, dass es noch etwas anderes gab, das zwischen ihnen stand, etwas, das von außen kam, worauf sie keinen Einfluss hatten.
Es war Gianna, die es am Samstag aussprach, als Vincenzo ihr von der Akte
Weitere Kostenlose Bücher