Goldrausch in Bozen - Kriminalroman
keine Blöße geben. Zunächst kam er noch
problemlos voran. In den Wandeinstieg war eine kleine Spur gesprengt, es gab
jede Menge Sicherungen. Doch bald kam er ohne schwindelerregende Kletterei
nicht mehr weiter.
Dazu diese schwüle Hitze, unter der das Land seit Tagen litt. Er
befand sich in einer Westwand, daher war es in den Vormittagsstunden wenigstens
noch schattig. Aber allmählich kroch die Sonne um den Berg herum und schien
mitten in den Steig. Obschon auf über zweitausend Metern Höhe, wurde es
unerträglich warm. Kein Lüftchen regte sich, die helle Felswand reflektierte
das Sonnenlicht zusätzlich. Er kam sich vor wie in einem Brutofen.
Er zwang sich, nicht mehr nach unten zu schauen, löste den ersten
der beiden Karabinerhaken. Während er sich mit der rechten Hand krampfhaft an
der Öse festklammerte, durch die das Drahtseil gelegt war, führte er mit der
anderen den Haken vorsichtig an der Öse vorbei. Er konnte nur auf den
Zehenspitzen stehen, denn die Wand bot kaum noch natürliche Tritte und Griffe.
Endlich gelang es ihm, den Karabinerhaken wieder einzuklinken. Er wiederholte
die Prozedur mit dem zweiten Haken. Das war das Ärgerliche. Man musste
grundsätzlich mit zwei Karabinern gehen, weil man sonst in den Momenten, in
denen man den Haken ausklinkte und um die Ösen im Fels führte, ungesichert war.
Das kostete Zeit und Kraft.
Er blieb stehen, bis sich sein Puls wieder beruhigt hatte. Dann zog
er sich vorsichtig an dem Drahtseil entlang. Anstatt seinen Blick starr vor
sich auf den Fels zu richten, ließ er ihn immer wieder zwanghaft dem Sog der
Tiefe folgen. Die Neigung der Wand überschritt jetzt neunzig Grad, ein
Überhang. Er erinnerte sich an den Moment, als er das erste Mal mit Hans vor
einem Überhang gestanden hatte. Damals hatte er gelacht, als Hans ihm in seiner
unnachahmlichen Art erklärte: »Ein Überhang ist ein Stück einer Route, deren
Steilheit über das Senkrechte hinausgeht.« Jetzt lachte er nicht mehr, denn er
konnte nicht einmal seine eigenen Füße sehen. Da war nur noch die Tiefe, wie
ein riesiger Schlund. Ihm wurde schwindelig. Gleichzeitig überfiel ihn ein
Brechreiz, seine Beine fühlten sich an wie Watte. Er hatte das Gefühl, im
nächsten Moment den Halt zu verlieren. Wie sollte er jemals heil wieder nach
Hause kommen?
Doch da, vor ihm, ein größerer Tritt im Fels! Endlich. Dort würde er
freihändig stehen und sich wenigstens einen Augenblick ausruhen können. Er
hatte durch seine Touren und Bergläufe eine ausgezeichnete Kondition. Aber das
hier war etwas völlig anderes. Diese Kombination aus Ausdauer, Kraft und
Konzentration, das kannte er nicht. Dazu diese Hitze. Und die Angst. Er
überwand sich weiterzugehen, ohne nach unten zu blicken, Schritt für Schritt.
Nach einer Minute, die ihm vorkam wie eine Ewigkeit, hatte er endlich wieder
festen Boden unter beiden Füßen. Vorläufig.
Vincenzo Bellini war Commissario in der Questura di Bolzano und
lange nicht mehr im Ahrntal gewesen. Bevor er nach Bozen versetzt wurde, hatte
er in der Questura in Brixen gearbeitet. Von dort aus war das Pustertal mit
seinen Nebentälern schnell erreichbar, aber seit er in Sarnthein bei Bozen
lebte, hatte er sich vor allem die Dolomiten und die Sarntaler Alpen
erschlossen. Doch heute war er mal wieder im Ahrntal, weil er mit Hans in der
Hütte unterhalb des Schwarzensteins verabredet war – und dafür musste er erst
diese vermaledeite Felswand hinter sich bringen.
Zurück konnte er auf keinen Fall. Wenn er schon fast nicht
hinaufkam, dann ging hinunter erst recht nicht. Und vor ihm lag, wie er erst
jetzt entsetzt bemerkte, eine weitere, fast glatte Wand, noch etwas stärker
überhängend. Durch sie war ein Drahtseil gelegt. Für die Füße gab es in
beängstigend großen Abständen Eisenstifte, die in den Fels gerammt waren,
natürliche Tritte und Griffe fehlten völlig. Erneut stieg Panik in ihm auf.
Wäre wenigstens Hans hier!
Als Hans mit ihm das Begehen ausgesetzter Klettersteige geübt hatte,
war es ihm viel leichter gefallen. Das lag an Hans’ Fähigkeiten als Bergführer
und seiner natürlichen Art. Er strahlte Ruhe und Souveränität aus, und trotz
seiner Erfolge und seines physischen Leistungsvermögens war er ein
zugänglicher, einfühlsamer Mensch geblieben. Niemals sprach er verächtlich über
Leute, die ihre Grenzen schon bei einem Spaziergang auf dem von vielen
Bergbahnen erschlossenen Kronplatz erreichten.
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